Der Kuss des Werwolfs - 1
nicht.«
»Außer diesen beiden leben noch fünf Millionen Menschen in London.«
»Ist ja gut. Jedenfalls wollen sie mit dir reden, die aus Polen. Sie sind jetzt hier. Komm her! Mein Chef lässt durchaus was springen bei so einer Sache. Auch für dich ist da was drin.«
Wenn sie das Gespräch schnell beendete, wäre das Eis vielleicht noch zu retten. Außerdem war sie auch ein bisschen neugierig auf die beiden schrägen Gestalten aus Polen. »Ich bringe schnell meine Einkäufe nach Hause und komme dann.«
Die Redaktion von »Daily 16« war in einem mehr als zwanzigstöckigen Bürohochhaus untergebracht. Versicherungen, Im-und Exportfirmen, Anwaltskanzleien, Internetfirmen und Broker hatten ihren Sitz im selben Gebäude. »Daily 16« belegte die achtzehnte und neunzehnte Etage. Eigentlich hätte es die sechzehnte sein müssen. Nola marschierte in das Büro, in dem der Schreibtisch ihrer Freundin neben vier anderen stand. Außer Violet war niemand da, ihre Kollegen hatten schon Feierabend gemacht.
Die Freundin saß auf der Ecke ihres Schreibtischs und sah einen Stapel Fotos durch. Sie schaute auf, als Nola eintrat. Die Frauen umarmten einander.
»Gut, dass du da bist.«
»Wo sind die beiden?«, wollte Nola wissen.
»Im Konferenzraum. Adrian unterhält sich gerade mit ihnen.«
Gemeint war Adrian Buringham, Chefredakteur für die Rubrik London und Violets Vorgesetzter. Nola hatte ihn bisher nur von Weitem gesehen. Er war groß, hager, dunkelhaarig und trug altmodische Koteletten; sie wusste von ihrer Freundin, dass er immer in Bewegung war, immer auf der Suche nach einer Story, und von seinen Mitarbeitern erwartete er dasselbe. Da musste ihm diese Werwolfgeschichte gerade recht kommen.
Das Konferenzzimmer war eingerichtet wie alle Konferenzzimmer dieser Welt: In der Mitte aneinander gestellte Tische, an denen mehr als ein Dutzend Personen Platz fanden. Viel interessanter waren die Personen, die es sich an einer Ecke des Konferenztischs bequem gemacht hatten und bei Nolas und Violets Eintreten aufschauten. Adrian Buringham sah erleichtert aus, als hätte es ihm nicht behagt, mit den beiden Besuchern allein im Raum zu sein.
Die Polen waren sehr blass, soweit Nola das unter den Neonröhren der Deckenbeleuchtung erkennen konnte, hatten aber die ebenmäßigsten Gesichtszüge, die Nola je gesehen hatte. Sie könnten ohne Weiteres in Hollywood Karriere machen. Der Mann trug trotz der Hitze einen Anzug und hatte sogar das Jackett angelassen, er machte jedoch nicht den Eindruck, als wäre ihm zu warm. Das blonde, schulterlange Haar hatte er im Nacken zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Die Frau war das genaue Gegenteil von ihm, sie war bekleidet mit einem geblümten Sommerkleid aus dünnem Stoff, der jede Kontur ihres Körpers durchscheinen ließ und ihre Unterwäsche aus weißer Spitze deutlich erkennen ließ. Ihr Haar war schwarz wie Ebenholz und hing ihr lose über den Rücken bis zur Hüfte, Fingernägel und Lippen waren im gleichen Rot geschminkt. Angesichts so viel kühler Eleganz kam Nola sich noch verschwitzter vor, als sie ohnehin war, außerdem wurde sie sich der Schäbigkeit ihrer verwaschenen Shorts bewusst. Wenigstens ihr Top war modisch.
Die Männer erhoben sich zur Begrüßung. Bei dem Polen wirkte es selbstverständlich, während Violets Chef leicht vornüber gebeugt dastand und linkisch erschien. Er übernahm die Vorstellung. Der Mann hieß Pawel Tworek, seine Schwester Antonia Tworeka. Beide Polen gaben Nola die Hand. Ihre Finger waren überraschend kräftig, die Haut fühlte sich ein wenig an wie — Leder. Besonders bei der Frau überraschte Nola das, denn sie sah nicht aus, als hätte sie je in ihrem Leben körperlich gearbeitet.
Alle setzten sich, und Pawel Tworek ergriff das Wort. Er widmete sich Nola, als wären sie allein im Raum. »Ms. McDullen, ich möchte mich entschuldigen, dass ich mit solcher Hast darauf gedrungen habe, Sie kennenzulernen.« Er sprach mit schwerem osteuropäischen Akzent, rollte das »R« auf der Zunge und war nicht leicht zu verstehen. »Hoffentlich hat es Ihnen keine Umstände bereitet herzukommen.«
Nola wusste nicht, was sie zu so viel altmodischer Höflichkeit sagen sollte, deshalb nickte sie nur unbestimmt. Gleich darauf kam ihr in den Sinn, dass das nicht die richtige Reaktion gewesen war, und sie schüttelte den Kopf. Die schöne Polin bemerkte ihre Unsicherheit und verzog die Lippen zu einem maliziösen Lächeln.
»Wenn wir mit unserer Vermutung richtig
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