Der Kuss des Werwolfs - 1
ließ er unbeachtet, stattdessen wandte er sich einer Eichentür mit stabilen Metallbeschlägen zu. Sie war mit drei Riegeln versehen, und alle waren verschlossen. Eugene holte die Schlüssel aus seiner Jackentasche und öffnete nacheinander die Schlösser. Er war erst in der letzten Nacht hier gewesen, aber er musste sich immer wieder überzeugen, dass alles so war wie in jeder anderen Nacht auch.
Hinter der Tür führte eine Treppe in den Keller, der im Gegensatz zum Rest der Burg peinlich sauber und aufgeräumt war. Die zu erwartende zentimeterdicke Staubschicht fehlte ebenso wie altersschwache Regale oder Gerümpel in den Ecken. Dafür standen an die Wand gelehnt Besen, Kehrschaufel und ein Eimer. Wenn es das Einzige war, was Eugene noch für Rhodry tun konnte: Der Freund sollte nicht in einer schmutzigen Umgebung ruhen.
Die Keller waren verwinkelt und reichten bis zu zwei Stockwerke tief in die Erde; die unteren waren in den blanken Fels geschlagen. Früher einmal mochten sie muffige und feuchte Zellen enthalten haben, doch Rhodry hatte sie in Kammern von etwa vier Meter im Quadrat verwandelt und ein raffiniertes Belüftungssystem eingebaut, das selbst nach all der Zeit noch tadellos funktionierte.
Zielstrebig suchte sich Eugene seinen Weg in die letzte dieser Kammern. Die Tür war verschlossen, diesmal mit nur einem Riegel. Er öffnete das Schloss und betrat den Raum dahinter. Der Werwolf brauchte eigentlich kein Licht, dennoch nahm er aus einem Korb neben der Tür eine Fackel und entzündete sie. Als sie brannte, steckte er sie in einen eisernen Halter an der Wand.
In der Mitte des Raums stand ein schmuckloser Sarkophag aus grauschwarzem Granit, den Deckel sorgfältig eingefasst. An der Wand dahinter hatte Eugene eine steinerne Tafel angebracht mit der Aufschrift: Rhodry Monroe, 1. Earl of Shavick geboren 27. Mai 1401 zu Shavick gebannt 6. Januar 1818 zu Shavick
Er musste nicht lesen, was dort stand, er wusste es auswendig. Die schrecklichen Ereignisse in der stürmischen Januarnacht im Jahr 1818 hatten sich in sein Gedächtnis eingebrannt.
Eugene drückte die Hände vor die Augen, als er vor der Kiste mit Rhodrys Leib stand. Er und die anderen Wölfe des Schottlandclans hatten ihren Alpha damals aus dem Broch hierher gebracht, wo er in Sicherheit war. Sie hatten das rote Kreuz vom Deckel abgewaschen, doch am Zustand des Earls hatte das nichts geändert. Wenn man die Deckplatte beiseiteschob, kam darunter nur seine leblose Hülle zum Vorschein. Dennoch fühlte Eugene den Geist seines Freundes in manchen Nächten, und heute war eine dieser Nächte: Er meinte, Rhodry in der Nähe zu spüren.
Damals hatte Eugene die Führung des Schottlandclans übernommen und ohnmächtig mit ansehen müssen, wie das Rudel seine frühere Größe einbüßte. Viele hatten sich den freien Werwölfen zugewandt, die ihren Hauptsitz in Straßburg hatten und sich die politischen Parteien der Menschen zum Vorbild nahmen. Er hatte jeden ziehen lassen, der das Rudel verlassen wollte. Er wusste, dass viele ihm die Schuld an dem gaben, was passiert war — er gab sie sich selbst. Er hätte viel entschlossener gegen die Krakauer vorgehen sollen.
Er schlug sich die Hände gegen den Kopf. Jeden Tag zermarterte er sich das Hirn. Er war um die halbe Welt gereist und hatte Archive nach uraltem Wissen durchstöbert, sogar das des verhassten Vatikans, aber alle Hoffnung war vergebens gewesen. Er hatte nicht einmal herausgefunden, wie Derenski die Bannung geschafft hatte, geschweige denn, wie er die Sache rückgängig machen konnte.
Er hörte Schritte im Kellergang und spürte jemanden den Raum betreten. Ohne sich umzusehen, wusste er, dass es Moira war. Sie schlang von hinten die Arme um ihn.
»Ich wusste, dass ich dich hier finde. Ich finde dich immer hier.«
»Das ist meine Sache, Moira.« Er befreite sich aus ihrer Umarmung.
»Unsere Sache. Du machst es richtig, das Rudel zu führen. Der Earl hätte es nicht anders gewollt, und außerdem haben dich die anderen gewählt.« Moira sprach von Rhodry nie anders als vom Earl.
»Trotzdem! Er ist nicht tot, ich habe ihn auch nicht besiegt, um die Führung des Rudels zu erringen. Ich habe eigentlich kein Recht, seine Position einzunehmen.« Er dachte an den jungen Wolf, seinen Mittelsmann, der sich auf der Farm von einem Streifschuss mit einer Silberkugel erholte. Die Sharingham-Schwestern, diese verdammten Werwolfjägerinnen, waren dafür verantwortlich. Sie hätten den Boten beinahe am
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