Der Kuss des Werwolfs - 1
Vi, ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll. Ich habe doch keine Halluzinationen! Er war real! Ich habe sein Gesicht gesehen, sehr männlich und sehr geheimnisvoll.«
»Wie hast du ihn erkannt? Hat er was gemacht?«
»Er hat mich angesehen und passte nicht zum Rest der Leute. Es ist verrückt, aber ich habe das Gefühl, dass er mir näherkommt, im Traum und im Leben. Wir sind wie Yin und Yang.«
»Das passt nicht zu dir. Du bist viel zu sehr in der Realität verwurzelt, als dass dich ein Traummann aus der Bahn werfen könnte. Na ja, jedenfalls einer aus deinen Träumen.« Violet kicherte über ihr Wortspiel. »Denk nicht darüber nach, und komm wieder mit rauf. Wir sind hier, um uns zu amüsieren.«
Nola hob abwehrend die Hände. »Solche Partys sind nicht mein Ding. Ich gehe nach Hause.«
Mit Küsschen auf die Wangen verabschiedeten sich die Freundinnen voneinander, und Nola ging zur nächsten U-BahnStation, die etliche Häuserblocks entfernt war. Die abgekühlte Nachtluft strich über ihren Körper wie seine sanften Hände. Ihre Einbildung konnte sie nicht so narren. Er war da gewesen, sie hatte sich das nicht eingebildet. Oder doch? Je länger sie darüber nachdachte, desto unsicherer wurde sie. Sollte sie wieder zurückgehen und ihn suchen?
»Ach, Rhodry«, murmelte sie, »warum kannst du nicht einfach kommen, wenn du mich willst?« Sein Name war auf einmal da, sie wusste nicht, woher sie ihn kannte.
»Ich kann nicht«, erklang die Antwort in ihren Gedanken. »Du musst zu mir kommen.«
Später in ihrer Wohnung lag sie wach im Bett. Obwohl sie krampfhaft versuchte einzuschlafen, um von ihm zu träumen, wurde sie immer wacher.
»Es ist eine Schande, wie Shavick Castle verfallt«, dachte Eugene Monterey, als er sich der einst stolzen Burg näherte. Sie lag am Ufer eines Sees und herrschte über das sturmzerzauste Hochland. Vor achtzig, hundert Jahren hatte er noch geglaubt, ihren Verfall aufhalten zu können, doch in den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts hatte er den Kampf aufgeben müssen. Bis dahin hatte es Mitglieder der Menschenfamilie gegeben, die durch Bluteid geschworen hatten, Rhodry Monroe, Earl of Shavick, zu dienen.
Gegen den Nachthimmel sah die Silhouette der Burg immer noch eindrucksvoll aus. Eugene sah sie bei Nacht so deutlich wie am Tag. Shavick Castle war aus den Bruchsteinen des Hochlands erbaut, der Wind hatte den Putz bis auf klägliche Reste abgeschliffen.
Eugene ging schneller und hielt den Ausschnitt seiner Wachsjacke am Hals zusammen — eine alte Angewohnheit, die er sich trotz seiner mehrhundertjährigen Existenz als Werwolf nicht abgewöhnt hatte, denn er spürte zwar den Wind auf der Haut, aber er fror nie. Er näherte sich der Burg auf der Rückseite, wo ein Teil der Mauer eingestürzt war, und umrundete sie. Brombeergestrüpp und Farne waren durch die Lücke gewuchert. An der einst unüberwindlichen Mauer hatte der Zahn der Zeit genagt. Das Tor von Shavick Castle sah aus wie ein dunkler Schlund, Torflügel existierten keine mehr. Der Schlosshof dahinter war von Unkraut überwuchert, und zwischen den Pflastersteinen hatten sich Birken angesiedelt; die höchste überragte beinahe die Mauer.
Eugene überquerte den Hof und ging auf das Haupthaus zu. Dessen Tür war noch vorhanden; sie war sogar abgeschlossen, selbst wenn sie einem Einbrecher keinen Widerstand entgegenzusetzen hätte. Der Werwolf kontrollierte das Schloss: Es war unangetastet. Er selbst benutzte den Haupteingang nicht, wenn er ins Haus wollte. Er nahm einen Seiteneingang beim ehemaligen Kräuter-und Gemüsegarten und gelangte von dort direkt in die Küche.
Der Wind pfiff hier drin genauso wie draußen, zwei Fensterscheiben waren kaputt, die Öffnungen notdürftig mit Plastik verhängt, das der ewige Wind bereits wieder zerfetzt hatte. Gut, dass Rhodry das nicht sehen musste — der Zustand des Schlosses würde auch einem Mann, der weniger an einem Haus hing als der Earl of Shavick, die Tränen in die Augen treiben. Eugene fand einfach keine Handwerker, die auf Shavick Castle arbeiten wollten, denn dort gingen unheimliche Dinge vor sich, erzählten die Leute in den umliegenden Dörfern. Niemand kam in die Nähe der Burg — außer manchmal ein paar Touristen, und auch die verschwanden schnell wieder.
Der Werwolf durchquerte die Küche, kam an den Kammern vorbei, die einst Geschirr, Besteck und Tischwäsche enthalten hatten, und erreichte die Eingangshalle. Die nach oben führenden geschwungenen Treppen
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