Der Landarzt (German Edition)
auf; ein Brauch, der die Unannehmlichkeit hat, die Gourmands zum Vielessen zu nötigen, und die besten Sachen von den mäßigen Leuten, die ihren Hunger an den ersten Gerichten gestillt haben, verschmähen zu lassen.
»Oh, meine Herren,« sagte der Pfarrer zum Friedensrichter, »wie können Sie behaupten, daß die Religionskriege kein bestimmtes Ziel gehabt hätten? Ehemals war die Religion ein so mächtiges Band in der Gesellschaft, daß die materiellen Interessen von den religiösen Fragen nicht zu trennen waren. Folglich wußte jeder Soldat sehr wohl, weshalb er sich schlug ...«
»Wenn man so sehr für die Religion gekämpft hat,« wandte Genestas ein, »muß Gott ihr Gebäude doch recht unvollkommen gebaut haben. Muß eine göttliche Institution nicht durch ihren Wahrheitscharakter Eindruck auf die Menschen machen?«
Alle Gäste sahen den Pfarrer an.
»Meine Herren,« sagte Monsieur Janvier, »die Religion fühlt man, sie läßt sich nicht definieren. Wir sind weder die Mittel noch das Ziel des Allmächtigen zu beurteilen fähig.«
»Nach Ihnen muß man also an alle Ihre Verbeugungen glauben?« sagte Genestas mit der Biederkeit eines Soldaten, der nie an Gott gedacht hatte.
»Mein Herr,« erwiderte der Priester ernst, »die katholische Religion macht besser als jede andere den menschlichen Aengsten ein Ende; aber, auch wenn dem nicht so wäre, welche Gefahr, frage ich, würden Sie laufen, wenn Sie an ihre Wahrheiten glaubten?«
»Keine große,« sagte Genestas.
»Nun, was setzen Sie aber aufs Spiel, wenn Sie nicht daran glauben! Aber, reden wir von den irdischen Interessen, die Sie am meisten berühren. Sehen Sie, wie stark sich der Finger Gottes den menschlichen Dingen aufgedrückt hat, indem er sie durch seines Stellvertreters Hand berührte. Die Menschen haben viel verloren, als sie von den vom Christentum vorgezeichneten Wegen abgingen. Die Kirche, deren Geschichte zu lesen wenige Leute sich einfallen lassen, die Kirche, die man nach gewissen absichtlich im Volke verbreiteten irrigen Meinungen beurteilt, hat das vollkommene Muster der Regierung, welche die Menschen heute zu errichten suchen, geboten. Ihr Wahlprinzip hat lange eine große politische Macht aus ihr gemacht. Ehedem hat es nicht eine einzige religiöse Institution gegeben, die nicht auf der Freiheit, auf der Gleichheit basiert gewesen wäre. Alle Wege halfen zum Werke mit. Der Rektor, der Abbé, der Bischof, der Ordensgeneral, der Papst wurden damals gewissenhaft nach den Bedürfnissen der Kirche gewählt, sie drückten ihren Gedanken aus: folglich war man ihnen den blindesten Gehorsam schuldig. Schweigen will ich von den sozialen Wohltaten dieses Gedankens, der die modernen Nationen geschaffen, so viele Dichtungen, Kathedralen, Statuen, Gemälde und Musikwerke inspiriert hat, um Sie nur darauf aufmerksam zu machen, daß Ihre bürgerlichen Wahlen, das Geschworenenkollegium und die beiden Kammern ihre Wurzeln in den provinzialen und ökumenischen Konzilien, im Episkopat und im Kardinalskollegium haben, nur mit dem Unterschied, daß die philosophischen Ideen der Gegenwart über die Zivilisation mir vor der erhabenen und göttlichen Idee der katholischen Gemeinschaft, dem Bilde einer universellen sozialen Gemeinschaft, vollendet durch das Wort und die Tat, die in dem religiösen Dogma vereinigt sind, zu verblassen scheinen. Es wird für die neuen politischen Systeme, wie vollkommen man sie auch annehmen mag, schwer werden, die Wunder zu wiederholen, die man dem Zeitalter verdankte, da die Kirche die menschliche Intelligenz trug.«
»Warum?« fragte Genestas.
»Zuerst, weil die Wahl, um ein Prinzip zu sein, bei den Wählern eine absolute Gleichheit verlangt: sie müssen – um mich eines geometrischen Ausdrucks zu bedienen – gleiche Größen sein, was die moderne Politik niemals zuwege bringen wird. Dann kommen die großen sozialen Dinge nur durch die Macht der Gefühle zustande, die allein die Menschen vereinigen kann, und die moderne Scheinphilosophie hat die Gesetze auf dem persönlichen Interesse basiert, das sie zu isolieren bestrebt ist. Ehedem traf man mehr als heute bei den Nationen auf Menschen, die in edler Weise von einem mütterlichen Geiste, den mißverstandenen Gesetzen und den Leiden der Menge gegenüber, beseelt waren. So widersetzte sich auch der Priester, ein Kind des Mittelstandes, der materiellen Gewalt und verteidigte die Völker gegen ihre Feinde. Die Kirche hat territoriale Besitzungen gehabt und ihre zeitlichen
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