Der Landarzt (German Edition)
halten,« fuhr der Arzt nach einer kleinen Pause fort, »so wünsche ich, daß das soziale System schwache und nachgiebige Netze habe, um jeden aus der Menge, der den Willen hat und sich fähig fühlt, sich in die höheren Schichten emporzuarbeiten, ans Ziel seiner Wünsche gelangen zu lassen. Jede Macht strebt ihre Erhaltung an. Um leben zu können, müssen heute wie früher die Regierungen bedeutende Männer an sich ziehen, indem sie sie überall nehmen, wo sie sie finden, um sich Verteidiger aus ihnen zu machen, und den Massen die energischen Leute, die sie aufwühlen, zu nehmen. Indem er dem öffentlichen Ehrgeiz steile und zugleich bequeme Wege – steil für den schwankenden, tatenlosen und bequem für den echten tatkräftigen Willen – eröffnet, kommt ein Staat den Revolutionen zuvor, welche die Hemmung des Aufwärtsstrebens wirklich überlegener Persönlichkeiten verursachte. Unsere vierzig Marterjahre haben einem vernünftigen Menschen beweisen müssen, daß die Ueberlegenheiten eine notwendige Folge der sozialen Ordnung sind. Es gibt ihrer drei, die unbezweifelbar sind: Ueberlegenheit des Gedankens, politische Ueberlegenheit, Vermögensüberlegenheit. Sind das nicht die Kunst, die Macht und das Geld, oder anders ausgedrückt: das Prinzip, das Mittel und das Resultat? Angenommen nun, man habe tabula rasa – die sozialen Einheiten seien vollkommen gleich, die Geburten im selben Verhältnis und man gäbe jeder Familie den nämlichen Grundbesitz, so würden Sie binnen kurzem doch die heute bestehende Vermögensunregelmäßigkeit wiederfinden. Aus dieser in die Augen springenden Wahrheit ergibt sich also, daß die Ueberlegenheit durch Vermögen, Gedanken und Macht eine Tatsache ist, die man hinnehmen muß, eine Tatsache, welche die Menge stets als bedrückend ansehen wird, indem sie in den auf die beste Weise erworbenen Rechten Privilegien sieht. Der von dieser Grundlage ausgehende Gesellschaftsvertrag wird also ein ewiger Pakt zwischen den Besitzenden gegen die Besitzlosen sein. Nach diesem Prinzip werden die Gesetze von denen gemacht werden, denen sie nützen; denn sie müssen den Instinkt ihrer Erhaltung besitzen und ihre Gefahren voraussehen. Sie sind mehr interessiert an der Ruhe der Masse als die Masse selber es ist. Die Völker haben ein vollkommenes Glück nötig. Wenn Sie von diesem Gesichtspunkte aus die Gesellschaft betrachten, wenn Sie sie in ihrer Gesamtheit umfassen, so werden Sie bald mit mir anerkennen, daß das Wahlrecht nur von den Leuten, die Vermögen, Macht oder Intelligenz besitzen, ausgeübt werden darf; und ebenso werden Sie anerkennen, daß ihre Bevollmächtigten nur äußerst beschränkte Funktionen haben können. Der Gesetzgeber, meine Herrn, muß seinem Jahrhundert überlegen sein. Er stellt die Tendenz der allgemeinen Irrtümer fest und präzisiert die Punkte, nach denen die Ideen einer Nation hinneigen; er arbeitet daher noch mehr für die Zukunft als für die Gegenwart, mehr für die heranwachsende Generation als für die absterbende. Wenn Sie nun die Masse berufen, Gesetze zu machen, kann die Masse dann sich selber überlegen sein? Nein. Je getreulicher die gesetzgebende Versammlung die Meinungen der Menge repräsentieren wird, desto weniger Verständnis wird sie für die Aufgabe des Regierens haben; desto weniger bedeutend werden ihre Pläne, desto weniger präzise, desto schwankender wird ihre Gesetzgebung sein; denn die Masse ist, in Frankreich vor allem, und wird nie etwas anderes sein als eine Masse. Das Gesetz bringt eine Unterwerfung unter Regeln mit sich; jede Regel steht in Opposition zu den natürlichen Sitten, zu den Interessen des Individuums; wird die Masse Gesetze wider sich selber unterstützen? Nein. Oft muß die Tendenz der Gesetze im umgekehrten Verhältnis zu der Tendenz der Sitten stehen. Wenn man Gesetze nach den allgemeinen Sitten formen wollte, hieße das in Spanien nicht, der religiösen Unduldsamkeit und dem Müßiggang, in England dem Handelsgeiste, in Italien der Liebe zu den Künsten, die dazu bestimmt sind, Ausdruck der Gesellschaft zu sein, die aber nicht die ganze Gesellschaft sein können, in Deutschland den adligen Klasseneinteilungen, in Frankreich dem Geist der Leichtfertigkeit, der Zugkraft der Ideen und der Leichtigkeit, uns in Parteien, die uns stets verzehrt haben, zu zersplittern, Ermunterungsprämien verleihen? Was ist in den mehr als vierzig Jahren geschehen, während deren die Wahlkollegien Hand an die Gesetze legen? Wir haben
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