Wo mein Herz zu Hause ist
1. KAPITEL
Heute würde sie ihn wiedersehen – das erste Mal nach dreizehn Jahren.
Sie brauchte nicht nachzurechnen; jedes Jahr war ihr schmerzlich bewusst. Allerdings nicht seinetwegen. Skip Dalton war ihr völlig egal. Wenn sie in dieser Zeit überhaupt an ihn gedacht hatte, dann nur, weil jemand seinen Namen erwähnte, oder weil Dempsey Malloy sich Footballspiele im Fernsehen ansah.
Doch mit Dempsey war sie seit über einem Jahr nicht mehr verheiratet, und ihr Fernseher blieb seitdem aus. Wenn sie nicht an der Schule unterrichtete, musste sie sich um ihre Bienen kümmern oder um die nötigen Reparaturen am Haus.
Nein, an Skip Dalton lag es nicht, dass sie sich seit dreizehn Jahren mit Erinnerungen quälte. Sondern an der „logischen Entscheidung“, die sie damals getroffen hatte. Logisch jedenfalls in den Augen ihres Vaters.
Logik . Und was war mit Gefühlen? Mit Tränen? Mit den schrecklichen Schuldgefühlen, die sie manchmal nächtelang wach hielten?
Ihre Finger verkrampften sich, und beinah hätte sie den zierlichen Ohrring fallen lassen, den sie sich gerade anstecken wollte.
Warum hatte sie damals nur auf ihre Eltern gehört?
Weil du feige warst, Addie. Genau wie jetzt. Sieh dich doch an – dir zittern die Knie, weil du ihm gleich begegnen wirst.
Sie biss sich auf die Unterlippe, steckte sich den zweiten Ohrring entschlossen an und atmete auf, als es geschafft war. Sollte sie sich auch die Wimpern tuschen? Ihre Schwestern Lee und Kat lagen ihr ständig in den Ohren damit, dass sie sich öfter schminken sollte. Aber schließlich war sie nicht auf dem Weg zu einer Verabredung. Und Skip Dalton wollte sie schon gar nicht beeindrucken.
Sie trat einen Schritt zurück und betrachtete sich im Spiegel. Das sonnengelbe Sommerkleid hatte sie von Kat; es musste reichen. Geld wuchs schließlich nicht auf Bäumen – schon gar nicht hier auf Firewood Island mit seinen gerade mal zweitausend Einwohnern.
Als Imkerin mit knapp einer halben Million Bienen betrieb sie einen der „Hobbyhöfe“, wie die Leute vom Festland die landwirtschaftlichen Kleinbetriebe auf der Insel gern überheblich nannten. Doch sommers wie winters zwölf Bienenstöcke zu betreuen, war beileibe kein Hobby, sondern verdammt harte Arbeit.
Sie steckte sich ihr dunkelblondes, widerspenstiges Haar zu einem Knoten auf, den sie mit vier Holzstäben befestigte. Die losen, sich ringelnden Strähnen ließ sie offen hängen – es war der Mühe nicht wert. An ihrer straßenköterblonden Mähne war wirklich nichts Besonderes.
Dafür war ihr Mund ein Hingucker. Sie beugte sich näher zum Spiegel und stellte zufrieden fest, dass ihre Lippen noch so voll und verführerisch aussahen wie damals. Nach kurzem Zögern legte sie einen Hauch zartrosa Lippenstift auf. Schließlich sollte er nicht denken, dass sie die letzten Jahre als Hausmütterchen am Herd verbracht und eine Schar Kinder versorgt hatte.
Ihr Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Du brauchst keine Schar, Addie. Mit Michaela sind all deine Träume in Erfüllung ge gangen.
Trotzdem ließ der Schmerz nicht nach. Warum war die Erinnerung gerade heute so schwer zu ertragen?
Aber sie wusste natürlich warum. Wegen Skip Dalton.
Vergiss ihn einfach! Du bist dreizehn Jahre lang wunderbar ohne ihn ausgekommen.
Genau. Und deshalb klopfte ihr auch das Herz bis zum Hals, und ihre Wangen fühlten sich heiß an.
Nimm dich doch zusammen! Er wird dich sowieso nicht erken nen.
Der Gedanke beruhigte sie etwas, und sie schaltete das Licht aus und trat in den Flur.
Michaela saß in ihrem Zimmer und war dabei, drei ihrer zehn Barbiepuppen umzuziehen. Sie trug nur eine Socke und das gelbe T-Shirt linksrum. Ins dunkle Haar hatte sie sich vier rosa Haarklemmen gesteckt, die im Farbton zu ihren pinkfarbenen Shorts passten.
Addie musste an sich halten, um sich nicht auf ihre Tochter zu stürzen, sie in die Arme zu schließen und fest an sich zu drücken.
Stattdessen fragte sie ruhig: „Na, können wir los zu Grandma?“
„Okay.“ Michaela sammelte drei der Puppen ein, stand auf und nahm Addies Hand.
„Das wird bestimmt lustig. Grandma will heute Nachmittag mit dir Kekse backen. Ehrlich gesagt, beneide ich dich. Ich muss zu dieser langweiligen Veranstaltung in der Schule.“
„Ja.“
Addie wünschte sich wie immer, ihre Kleine würde mehr reden. Die Sprachtherapeutin gab sich die größte Mühe, doch seit Dempsey die Familie vor vierzehn Monaten verlassen hatte, war es schwer, an Michaela
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