Ihr liebt sie nicht: Psychothriller (German Edition)
1
Die Saison fürs Jagdreiten war fast schon vorbei. Allerdings ritt Jess Took gar nicht mit, sie schaute nur zu.
Wenn man das überhaupt so nennen konnte.
Jess war dreizehn, und im Laufe des letzten Jahres war »Jagden reiten« für sie zu einer Umschreibung dafür geworden, im Pferdetransporter ihres Vaters zu sitzen, fast taub von dröh nendem Hip-Hop und fast blind, weil die Scheiben in der Kälte eines frühen Frühlingsmorgens rasch beschlugen.
Obwohl es Mai war, hatte sich über Nacht ein Schleier aus funkelndem Raureif über das Exmoor gelegt; wie in Geschenkpapier gehüllt sah es aus, richtig weihnachtlich. Die aufgehende Sonne übergoss die Hügel mit Gold und machte glitzernde Edelsteine aus dem Tau. Touristen kamen von überall her, um so etwas zu sehen. So etwas wie das, was Jess Took gerade ignorierte. Sie reduzierte ihre Welt stattdessen lieber auf ein paar wenige Sinneseindrücke – das beschlagene Glas, einen fremdartigen Beat und den schwachen Geruch nach Pferdemist. Ein Geruch, den sie mit ihrem allerersten Atemzug in ihre feuchte Säuglingslunge gesogen hatte und den niemand aus ihrer Familie je ernsthaft aus ihrer Nase zu vertreiben versucht hatte.
John Took war Master des Jagdvereins Midmoor. Co- Master, wie Jess ihn gern erinnerte. Seit der Scheidung verbrachte sie nur noch die Wochenenden bei ihrem Vater, und dadurch hatte sie die nötige Distanz gewonnen, um einen kritischen Blick und ein fast unheimliches Geschick darin zu entwickeln, ihn da zu treffen, wo es wehtat. Zur Strafe dafür, dass er eine Affäre gehabt und ihre Mutter verlassen hatte, hatte Jess aufgehört, mit ihm Jagden zu reiten. Es fehlte ihr, doch sie war fest entschlossen, ihn leiden zu lassen.
Im Gegenzug erlaubte John Took ihr nicht, samstagmorgens allein zu Hause zu bleiben, wenn eine Jagd stattfand. Stattdessen lud er erst Blue Boy und dann Jess gleichermaßen ruppig in den Transporter; dann holte er das Pferd heraus und ließ sie auf irgendeinem Kiesparkplatz oder einem Grasstreifen zurück, je nachdem, wo sie an dem betreffenden Tag gerade geparkt hatten. Er machte ihr immer ein paar pappige Sandwiches, und um ihm eine Lektion zu erteilen, rührte sie sie nie an.
Jetzt, als sie den Zündschlüssel drehte, um ein bisschen Wärme auf die Füße geblasen zu bekommen, blinzelte Jess in den ganz frischen Sonnenaufgang, der durch die beschlagene Windschutzscheibe gedämpft wurde. Irgendwo da draußen brüllte ihr Vater jetzt Anweisungen und kommandierte die Leute herum, auf diese Art, die ihr so verhasst war. Bestimmt riss er Blue Boy zu heftig im Maul, um jene spektakulären Wendungen und Haltemanöver hinzulegen, von denen er glaubte, sie machten ihn zu einem besseren Reiter.
Sie seufzte. Manchmal hatte sie große Lust, diesen Krieg mit ihrem Vater einfach sein zu lassen. Allmählich hatte sie den Verdacht, dass ihr das Ganze mehr zusetzte als ihm. Auf jeden Fall kostete es mehr Mühe, als sie eigentlich auf irgendetwas in ihrem Leben verwenden wollte – von den SMS an ihre Freundinnen und den neuen UGG-Boots, die ganz oben auf ihrer Wunschliste standen, einmal abgesehen.
Jess überlegte, ob Viertel vor sieben zu früh war, um Alison eine SMS zu schicken und ihr zu berichten, wie beschissen ihr Leben war.
Wahrscheinlich.
Die jähe Dunkelheit eines Schattens füllte das undurchsichtige weiße Glas des Beifahrerfensters, und die Tür wurde aufgerissen. Jess öffnete den Mund und schickte sich an, ihren Vater grob anzupflaumen, weil er sie erschreckt hatte. Dann ließ sie ihn fassungslos offen stehen, als ein gesichtsloser Fremder durch die Tür griff, die Arme um sie schlang – und sie einfach aus dem Wagen zerrte.
Es ging alles so schnell.
Jess fühlte, wie ihre Füße auf dem Kies aufschlugen, und die Kälte traf sie ins Kreuz, als ihr Sweatshirt hochrutschte. Sie wand sich, trat um sich und versuchte, den Kopf zu drehen, um nach den starken Armen des Mannes zu beißen, doch alles, was dabei herauskam, war ein Mundvoll bittere Schmiere von seiner Wachsjacke.
Jess spürte, wie sie über den Boden geschleift wurde; halb versuchte sie, auf die Füße zu kommen, und halb, sich schwer und unhandlich zu machen. Die Ohrstöpsel des Kopfhörers waren herausgefallen, doch sie konnte den Beat noch immer hören – blechern und schwach, irgendwo an ihrem Hals, und außerdem das Scharren des Kieses und ihr eigenes gepresstes Atmen. Der Pferdetransporter ihres Vaters verschwand aus ihrem Gesichtsfeld, und sie sah die
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