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Der lange Schatten

Titel: Der lange Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra von Grote
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kriegen die nie wieder!«
    Betty lehnte sich zurück, griff nach ihrer Packung mit Mentholzigaretten und zündete sich eine an.
    »Die werden sich schon melden, Guy.« Der Rauch kam stoßweise aus ihrem Mund, hing einen Moment im Raum und stieg Guy in die Nase. Er wedelte ihn mit der flachen Hand weg.
    »Wann hörst du eigentlich endlich auf?«, fragte er, ohne es wirklich ernst zu meinen.
    »Gar nicht, das weißt du doch. Weil’s mir schmeckt.« Die Antwort klang kurz und trocken. Es war ein altes Spiel zwischen ihnen. Fast so alt wie ihre Beziehung. Er selbst hatte vor zwei Jahren mit dem Rauchen aufgehört.
    »Dann tu mir wenigstens den Gefallen und wechsle die Marke.«
    Betty schenkte ihm einen spöttischen Blick aus grünbraunen Augen, klemmte die Zigarette zwischen ihre Lippen und widmete sich wieder dem Computer. Ihr Mann betrachtete sie einen Augenblick. Ein Lichtstrahl der Deckenbeleuchtung fiel auf ihr dunkles Haar. Keine einzige graue Strähne war dort zu sehen. Trotz ihres beginnenden Klimakteriums glänzten die Haare wie bei einer jungen Frau. Ein Lächeln schob sich in Guys Mundwinkel. Er liebte Betty, hatte sie vom ersten Tag ihrer Begegnung an geliebt. Das erotische Feuer der ersten Jahre brannte natürlich inzwischen auf sehr viel kleinerer Flamme, doch das hatte ihre Ehe keineswegs beeinträchtigt. Seit fünfundzwanzig Jahren waren sie nun verheiratet, im Dezember wurde silberne Hochzeit gefeiert. In einem Land, in dem beinahe jede zweite Ehe geschieden wurde, galt eine langjährige Lebensgemeinschaft als ebenso kostbar wie exotisch. Guy seufzte, es war ein wohliger Laut. Er empfand sich als glücklichen Menschen, jeden Tag aufs Neue. Das große Los im Leben ziehen, darauf kam es an. Und er hatte es gezogen, privat und beruflich. Aus dem bescheidenen Blumenladen seines Vaters war ein kleines Unternehmen geworden, das immer weiter expandierte.
    Er beugte sich zu Betty hin und küsste sie auf den Hals.
    »Ich geh jetzt zur Bank, chérie . Bevor die über Mittag schließen. Bin in zehn Minuten zurück. Und denk drüber nach, aufzuhören.«
    Betty nahm die halb gerauchte Zigarette aus dem Mund und drückte sie im Aschenbecher aus.
    »Du kannst es einfach nicht lassen, Guy!«
    »Wenn ich es lasse, dann liebe ich dich nicht mehr.«
    Als er sein Geschäft verließ, begegnete er Marguerite Brancard, die mit schnellen Schritten durch die Rue des Citeaux Richtung Boulevard Diderot ging. Sie trug einen hellen Mantel, einen selbst gestrickten groben Schal und altmodische Stiefeletten, die ein gutes Stück unter der zu kurzen schwarzen Hose hervorlugten. Guy Thinot kannte sie schon, seit er ein Kind war. Ihr genaues Alter wusste er nicht, aber zehn Jahre älter als er war sie mindestens. Bis vor einigen Jahren war sie von Nachbarn und Geschäftsleuten noch mit »Mademoiselle« angeredet worden. Nach und nach waren die Leute dann zu »Madame Brancard« übergegangen. Vielleicht, weil »Mademoiselle« für eine ältere, unverheiratete Frau in heutiger Zeit nicht mehr angemessen schien. Vielleicht aber auch, weil ihre Mutter, die sich die Anrede Madame durch Heirat erworben hatte (wobei niemand wusste, ob sie tatsächlich je verheiratet gewesen war oder noch immer ihren Mädchennamen trug), aus gesundheitlichen Gründen die Wohnung nicht mehr verließ und daher immer mehr in Vergessenheit geriet. Marguerite schien gewissermaßen an ihre Stelle getreten zu sein.
    Marguerite Brancard war eine langjährige Kundin. Bevor Guy das Geschäft von seinem Vater übernommen hatte, kam sie schon jeden Sonnabendvormittag und kaufte einen kleinen Strauß Blumen. »Für Maman«, sagte sie jedes Mal. »Etwas Hübsches, nicht zu teuer.« Nicht zu teuer hieß: unter zwanzig Francs, und seit es den Euro gab, bis zu fünf Euro. Dafür bekam man normalerweise nicht viel. Im Frühjahr einen Veilchenstrauß oder Maiglöckchen, im Sommer bunte Feldblumen oder Sonnenblumen, und das ganze Jahr über kleine, bunte Rosen im Sonderangebot. Bei Marguerites sonnabendlichen Käufen zeigte Guy sich großzügig. Die Sträuße, die er ihr anbot, lagen eigentlich um die acht Euro.
    Guy wusste nicht viel über sie und ihre Familie. Man sah Marguerite stets allein oder mit ihrer Mutter, die bis vor einigen Jahren noch einen ziemlich rüstigen Eindruck gemacht hatte. Jetzt war sie schon seit vielen Jahren bettlägrig und wurde von ihrer Tochter rührend umsorgt. Der wöchentliche Blumenstrauß zeugte von großer Liebe; nicht jede Mutter hatte eine

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