Der lange Schatten
Bankkassierers ein Alarmknopf befand. Doch den konnte Bernadette Gaspard schlecht betätigen, denn sie hatte die Hände erhoben. Vielleicht hatte sie vorher noch die Gelegenheit gehabt, in dem Moment, als der Täter in die Bank gestürmt kam?
Plötzlich war von der Sicherheitsschleuse her ein Geräusch zu hören, wie das Zuschnappen oder Einrasten einer Tür. Céline ahnte, was das war. Die Kassiererin hatte anscheinend tatsächlich auf irgendeine Weise Alarm schlagen können. Und das bedeutete vermutlich, dass die Schleuse sich automatisch verriegelte.
Der Maskierte erfasste die Situation ebenfalls sofort. Er richtete die Waffe auf die Kassiererin.
»Du Miststück!«, schrie er. »Ich hab doch gesagt, mach keinen Blödsinn!« Er gab einen gezielten Schuss ab, der die Kassiererin mitten in die Brust traf. Ohne einen Laut sank sie zu Boden und verschwand hinter dem Kassentresen. Sofort war der Maskierte bei ihr, zerrte ihren leblosen Körper in die Mitte des Raumes und ließ ihn wenige Meter vor Céline liegen. Céline sah, wie Blut den hellen Pullover in Windeseile durchtränkte. Wie gelähmt starrte sie auf den sich schnell ausbreitenden Fleck und in die gebrochenen Augen der jungen Frau.
Als der Schuss fiel, waren mehrere Schreie zu hören gewesen. Céline konnte nicht sagen, ob sie selbst auch geschrien hatte.
»Damit das für alle klar ist«, bellte der Maskierte jetzt. »Das hier ist keine Gameshow! Wer nicht tut, was ich sage, den leg ich um!« Céline glaubte ihm aufs Wort.
Lähmendes Entsetzen hatte sich nun im Raum breitgemacht. Céline konnte nicht glauben, dass sie mitten in ihrer Bank auf dem Boden lag, neben der toten Bernadette Gaspard, die ihr vorhin noch zugewinkt hatte. Von der Stirn des dicken Bankkunden, der schräg vor ihr auf dem Boden lag, perlten Schweißtropfen. Céline blickte geradewegs in seine braunen Augen, in denen die nackte Panik stand. Die ältere Frau auf dem Boden vor dem Kassenschalter fing an zu schluchzen.
»Schnauze, hör auf zu flennen!«, herrschte der Maskierte sie an. Als hätte man einen Schalter umgelegt, verstummte die Frau. Ihr Körper lag in Célines Blickfeld, und Céline sah, dass sich eine kleine Pfütze auf dem dunklen Fliesenboden unter ihr ausbreitete.
Der Geiselnehmer marschierte zur Schleuse und drückte auf den grünen Knopf, mit der sie geöffnet wurde. Nichts. Er trat mit seinen Stiefeln gegen das Panzerglas. Dann stürmte er in den Raum zurück und rief: »Okay, Programmänderung, meine Herrschaften! Wie gut, dass ich so vorausschauend war und an alles gedacht habe.« Der Maskierte, ein durchtrainierter, sportlich wirkender Mann, nahm seinen Rucksack von der Schulter. Ohne die Waffe zu senken, warf er ihn irgendjemandem zu. Leonardo Nadal, dem zweiten Bankangestellten?
»Mach den Rucksack auf, und hol die Plastikfesseln raus. Leg sie den Leuten an. Los, beeil dich!«
Céline konnte Leonardo Nadal aus ihrer Position nicht sehen, doch sie wusste, dass jetzt ein entscheidender Moment gekommen war. Der Täter würde alle Geiseln fesseln, danach seine Beute zusammenraffen … und dann? Die Schleuse war immer noch verriegelt. Und die Fenster? Waren sie vergittert? Céline glaubte sich zu erinnern, dass das nicht der Fall war. Aber wenn doch? Dann würde es vielleicht noch weitere Opfer geben. Der Maskierte hatte bereits gezeigt, wozu er fähig war.
Céline musste sofort eine Entscheidung treffen. Sollte sie das Risiko eingehen? Dann begab sie sich selbst in tödliche Gefahr. Und nicht nur ihr eigenes Leben, auch das ihres ungeborenen Kindes würde sie gefährden.
Jetzt geriet Leonardo Nadal in ihr Blickfeld. In der Hand hielt er einige Plastikschnüre, Handfesseln, wie sie die Polizei seit einigen Jahren benutzte. Der Täter trat zu ihm und richtete seine Waffe auf ihn. Dabei drehte er Céline den Rücken zu.
»Los, beeil dich!«, blaffte er den Bankangestellten an.
Das war der Moment. Mit der rechten Hand tastete Céline nach ihrem Handy, das in ihrer Jackentasche steckte. Es war eingeschaltet. Sie drückte rasch die Taste 2, die Kurzwahl für LaBréas Handynummer. Dann suchte ihr Finger die grüne Verbindungstaste links unter dem Display. In der nächsten Sekunde zog sie ihre Hand zurück und legte den Arm in die alte Position. Sie hoffte inständig, dass sie tatsächlich die richtigen Tasten erwischt hatte.
Der Täter hatte nichts bemerkt. Doch der dicke Mann mit dem Backenbart, dessen Gesicht inzwischen schweißüberströmt glänzte, hatte die
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