Der langsame Tanz
Künstlerin heißt ja nicht Marianne. Und schon gar nicht Borowsky.
Je weiter nach Süden er kam, desto heller wurde der Himmel, und ab Northeim erinnerte er sich wieder daran, wie ein Mai in seiner Kindheit ausgesehen hatte. In Hamburg erkennt man ihn an Leuten, die mit zugeklapptem Schirm durch den Nieselregen gehen.
Kurz hinter Göttingen gab es keine Wolke mehr am Himmel.
Und ab Heidelberg war er glücklich.
Irgendwo hinter Karlsruhe verließ er die Autobahn, verlockt von einem Schild mit dem lakonischen Hinweis »Frankreich«. Er fuhr langsamer über Landstraßen und genoß die warme Luft des Nachmittags.
Die Kassette mit »So long Marianne« schien ihm übertrieben gut zu passen ; einen Film, der ihm so etwas anzubieten wagte, würde er abschalten. Aber das Leben schert sich nicht um Glaubwürdigkeit und nicht um Rezensionen, und »So long Marianne«
war seit langem schon sein Lieblingslied. Schon lange vor ihr war es das gewesen und würde es auch lang nach ihr noch sein. Er ging pfleglich damit um. Es hatte eine Kassette nur für sich allein, und er hörte es nicht immer, wenn er wollte. So verlor es nicht sein Leben vor der Zeit.
*
In Haguenau nahm er sich ein Hotel. Zum ersten Mal in seinem Leben ließ er sich den Entschluß nicht vom Zimmerpreis diktieren, sondern von der Schönheit der Fassade und des Eingangs. Da waren Blumen vor den Fenstern und eiserne Balkone, und er lehnte sich an die Theke, um zu fragen, ob es ein Zimmer gäbe. Und nicht, was es denn koste.
Das Zimmer lag zur Straße. In der einfallenden Dämmerung saß er auf der Bettkante und lauschte dem Klang des städtischen Abends : das Lachen junger Frauen, Gespräche, Schritte, Hupen aus der Ferne und, seltener, das Jaulen hochtouriger Kavalierstarts. Und all das auf französisch.
Er ging, hungrig geworden, hinaus und schlenderte, die Augen überall, durch den Orchestergraben zwischen den Musikanten des eben gehörten Konzertes hindurch. In einer Pizzeria fand er Platz ganz hinten an der Wand. Er saß gerne so. Mit der ganzen Besetzung der alltäglichen Seifenoper vor Augen und nichts mehr von Bedeutung hinter sich. Er bestellte sich ein Essen und fühlte zum ersten Mal seit Tagen, daß das Tempo des Geschehens wieder abnahm.
*
Es war zehn Uhr vorbei, als er, weich vom Wein und müde von der Fahrt, zum Hotel zurückging und hoffte, den letzten Satz der Haguenauer Abendsinfonie nicht verpaßt zu haben. Und sogar damit hatte er Glück.
Bei gelöschtem Licht saß er am offenen Fenster und dachte sich Gesichter zu den Stimmen und Geräuschen, und keines der Gesichter hatte Ähnlichkeit mit Annes.
Erst als von draußen fast nichts mehr hereinklang, legte er sich nackt zwischen die Laken. Der kühle Stoff an seiner Haut, das leise Rascheln, wenn er sich bewegte, und der feine Geruch nach Stärke oder Waschmittel hatten etwas Tröstliches an sich. Das fiel ihm auf, obwohl er keinen Trost brauchte. Er dachte nicht an Anne.
*
Kurz vor neun am anderen Morgen erwachte er vom Rumpeln der Wäschewagen und den Stimmen der Zimmermädchen auf dem Flur. Da war ein Schatten hinter seinen Augen, er hatte irgendwas geträumt, aber eins war sicher : nicht von Anne.
*
Der Wagen wird jetzt erst mal meine Heimat sein, dachte er beim Anlassen des Motors und gleich darauf : wieso Heimat ? Und dann : wieso nicht ? Er lächelte nachsichtig über die innere Diskussion und sagte laut : »Du bist jetzt erst mal meine Heimat.« Ihm war, als brumme der Motor eine Antwort. Er tätschelte das Armaturenbrett wie immer, wenn ihm auffiel, daß der Wagen noch lief : »Wir verreisen jetzt, mein Alter. Wir sehen uns die Gegend an.« Und diesmal war das Antwortbrummen deutlich.
*
Und nun sitzt er auf einem Plastikstuhl, und eine Frauenstimme sagt : »Voilà der Café Crème, bitteschön.«
Den Arm, der die Tasse vor ihn stellt, verfolgt er nicht mit dem Blick bis zum Gesicht der Kellnerin, sondern sagt nur : »Mmh, merci« und beugt sich über den Tisch, um zu trinken. Und staunt, daß er glücklich ist. Und nicht, wie er es sein müßte, am Boden zerstört.
Liebe, geht ihm durch den Kopf, das ist auch so ein Wort wie Heimat, man darf es allenfalls mit ironischer Theatralik oder einem Schulterzucken aussprechen. Aber wenn dieses Wort je etwas in seinem Leben zu Recht beschrieb, dann sein Gefühl für Anne. Er hätte sie nicht verlassen. Sie dachten dasselbe im selben Moment, sie redeten in Kürzeln, ahnten jede
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