Die Rueckkehr der Phaetonen
Prolog
1
Über Paris, fast die Dächer berührend, zog langsam eine niedrige und düstere Wolkendecke nach Westen. Drei Viertel vom Eiffelturm versteckten sich im nassen Nebel und man musste unwillkürlich denken, dass dort, in der Höhe über den Wolken, seine scharfe Spitze im leuchtenden Blau badete. Tagelang und ohne aufzuhören, fiel der zähe, nervig monotone Regen träge über der Stadt.
Aus dem Zimmer waren die feinen Verflechtungen des Turms gut zu sehen, und Wolgin hatte sich daran gewöhnt, sich stundenlang an der Eleganz der scheinbar gewichtslosen Linien zu erfreuen, die mit der Spitze einer Reißfeder auf dem Himmel gezeichnet schienen.
Nun war der Kranke bereits seit drei Tagen des gewohnten Anblicks beraubt; sogar die massive Kontur des Turmsockels war durch das nasse Fenster kaum zu sehen. Es ärgerte ihn und die langen Stunden des einsamen Liegens schienen noch länger und langweiliger. Als wäre jemand, an den Wolgin sich während der Krankheit gewöhnt hatte, aus dem Zimmer gegangen und weigerte sich nun beharrlich, wieder zurück zu kommen. Jeden Morgen, wenn Wolgin die Augen öffnete, hoffte er, die vertraute Silhouette des Turms zu sehen, doch die Hoffnung war vergeblich.
>Scheint, als werde ich ihn nicht wieder sehen<, dachte er.
Er wusste genau, dass er starb, dass seine Tage gezählt waren. Er las sein Urteil in den Gesichtern der Menschen um ihn herum, hörte es aus betont munter klingenden Worten heraus, mit denen sie ihm schnelle und vollständige Genesung versprachen. Noch besser wusste er es jedoch aus seiner inneren Überzeugung.
Angst vor dem Tod hatte er nicht. Er dachte voller Ruhe über ihn nach, mit einem Gefühl, welches einer gewöhnlichen Neugier gleichkam. Wenn die Ärzte von der nahenden Genesung sprachen, verkniff er sich beim Zuhören immer ein Lächeln. >Wie merkwürdige dachte er, >dass ausgerechnet die Medizin die Lüge nicht nur für nicht anstößig hält, sondern im Gegenteil, für völlig zulässig und sogar notwendig, wenn es um hoffnungslos Kranke geht. Und das nur, weil die Mehrheit der Menschen Angst vor dem Tod hat... Was kann denn einfacher und natürlicher sein als der Tod?< Sofort rauschten die bekannten Gesichter an seinem inneren Blick vorbei, die Gesichter all derer, die vor seinen Augen gestorben waren, ohne Angst und ohne »rettende« Lügen. Es waren sehr viele. Sie gingen in den Tod, weil sie wussten, dass es nötig war ...
Niemand würde dem Kranken jemals die Wahrheit sagen. Niemand würde glauben, dass er einfach nur müde sei, dass er die Nachricht von seinem Ende mit Freude empfing, dass es ihm kein bisschen Leid täte, sich von dem Leben zu verabschieden, das für ihn schon lange lästig geworden war. Er würde nur gern den genauen Zeitpunkt wissen, um sich vorzubereiten. Es schien, als wäre nichts einfacher als das, und dennoch würde es niemand verstehen und es ihm sagen ...
Plötzlich leuchtete ein Satz in seinem Gedächtnis auf, den er heute Morgen gehört hatte: »Bald, junger Mann, werden Sie wieder arbeiten können.« Das sagte ein bekannter Pariser Professor, der ihn untersucht hatte.
Natürlich! Wieso hatte er es nur nicht sofort verstanden!
Das, was er ihm gesagt hatte, war die ersehnte Nachricht gewesen. Das sagt man keinen Schwerkranken, die tatsächlich nach zwei oder drei Monaten wieder gesund werden. Das ist sinnlos. So sagt man, wenn alles aus ist, wenn nur noch ein paar Tage geblieben sind und man dem Kranken nichts mehr zu sagen hat.
Also schon bald, vielleicht sogar heute oder morgen ...
Wolgin sah aus dem Fenster. Hinter der nassen Scheibe konnte man nach wie vor nichts außer undeutlichen Konturen der Baumkronen erkennen — das Zimmer, in dem Wolgin lag, befand sich im obersten Stockwerk.
>Nach wie vor nichts ...<, dachte er.
Der Wunsch, das lieb gewonnene Technikdenkmal des neunzehnten Jahrhunderts zu sehen, verwandelte sich unabhängig von seinem Willen in eine fixe Idee. Es schien bereits jetzt undenkbar, aus dem Leben zu gehen, ohne einen Abschiedsblick auf die Spitze des Turms zu werfen.
Wolgin streckte die Hand aus und drückte auf die Klingel. Sofort kam eine Frau in einem über die Schultern geworfenen weißen Kittel ins Zimmer.
»Sie?«, wunderte er sich, als er die Ehefrau des Botschafters erkannte. »Ist denn keine Pflegerin da?«
»Ab heute werden sie nur nachts bei Ihnen sein.«
»Ich denke«, sagte Wolgin, »dass ich auch nachts keine Pflegerin mehr brauche. Ich fühle mich schon besser, und
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