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Der langsame Walzer der Schildkroeten

Der langsame Walzer der Schildkroeten

Titel: Der langsame Walzer der Schildkroeten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Pancol
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rollte über den Boden.
    Junior schnappte sich ein Croissant und stopfte es sich in den Mund. Er hatte Hunger. Und mit vollem Magen konnte er besser nachdenken. Er musste schnell handeln. Heute Nacht würde er einen kleinen Ausflug zurück nach oben unternehmen und mit Mozart reden. Der würde ihm sagen, was zu tun war.
    Beruhigt machte er sich über ein zweites Croissant her.
    An diesem Sonntag war Hortense mit Nicholas Bergson, dem Artdirector von Liberty, bei Fortnum & Mason zum Brunch verabredet. Sie liebte Liberty, dieses große, gleichermaßen altmodische wie avantgardistische Kaufhaus, dessen Fassade an der Regent Street der eines alten elsässischen Hauses ähnelte. Sie ging oft dorthin. Und beim Umherschlendern in den Gängen, beim Zeichnen und Fotografieren überzeugender Details, hatte sie Nicholas Bergson kennengelernt. Er war ein attraktiver Mann, wenn man davon absah, dass er so klein war. Zwerge hatten ihr noch nie gefallen, aber wenn er saß, fiel es gar nicht auf. Er war witzig, sprudelte vor Ideen und besaß diese wundervoll distanzierte englische Art.
    Sie redeten über ihre Jahresabschlussmappe, die sie einreichen musste und die darüber entscheiden würde, ob sie in die nächsthöhere Klasse aufgenommen wurde. Von den tausend Studenten im ersten Jahr würden nur siebzig weiterkommen. Als Thema hatte sie Sex is about to be slow gewählt. Das war originell, aber knifflig. Sie war sich sicher, dass niemand auf die gleiche Idee gekommen war, aber nicht, ob es ihr auch gelingen würde, sie umzusetzen. Abgesehen von dem Sketchbook, das sie vorlegen musste, sollte sie auch eine Modenschau mit sechs Entwürfen auf die Beine stellen. Sechs Modelle, die gezeichnet und genäht werden mussten, und nur eine Viertelstunde Zeit, um zu überzeugen. So war sie jetzt auf der Jagd nach Details. Details, die die Akribie mit Sinnlichkeit erfüllen würden. Die Inszenierung der langsamen Entfaltung sexuellen Begehrens. Ein schwarzes, tiefschwarzes, durch einen raffinierten Knoten geschlossenes Kleid, ein rückenfreies Kleid mit Schlitzeffekt, ein auf die Wange gezeichneter Schatten, ein Schleier über einem kohlschwarzen Auge, eine Schnalle an einer schlanken Fessel … Nicholas konnte ihr dabei helfen. Und eigentlich war er ja auch gar nicht so klein, entschied sie, er hatte bloß einen langen Oberkörper. Einen sehr langen Oberkörper.
    Er hatte sie in ihren liebsten Teesalon im vierten Stock von Fortnum & Mason eingeladen. Gary hatte schon dreimal hintereinander ihren gemeinsamen Sonntagsbrunch abgesagt. Dabei war es gar nicht so sehr diese Tatsache an sich, die ihr Sorgen bereitete, sondern der höfliche Ton, den er dabei angeschlagen hatte. Höflichkeit bedeutet Distanz, Verlegenheit, ein Geheimnis. Der Sonntagsbrunch war ihr gemeinsames Ritual. Es musste schon etwas ziemlich Wichtiges sein, das ihn davon abhielt. Etwas oder jemand. Und diese zweite Möglichkeit gefiel ihr ganz und gar nicht.
    Sie rümpfte die Nase, und Nicholas glaubte, sie sei mit seinen Worten nicht einverstanden.
    »Doch, sicher, glaub mir, Schwarz und Begehren passen so fantastisch zusammen, dass du unbedingt ein von Kopf bis Fuß schwarzes Modell entwerfen musst. Und damit meine ich auch das Model. Das Mädchen muss tiefschwarz sein, schwärzer noch als Kohle, und nur ihre lächelnden weißen Zähne deuten den Spalt an, jenen klaffenden Spalt des Begehrens, die Zeitlosigkeit des Begehrens, das grenzenlose männliche Begehren nach dem weiblichen Begehren …«
    »Vielleicht hast du recht«, sagte Hortense, biss von ihrem Scone ab und trank einen Schluck Lapsang Souchong, aus dem man das köstliche Aroma des Zedernholzes herausschmeckte, auf dem er getrocknet worden war. Ja, es war Zedernholz, auch wenn im Abgang ein Hauch von Zypresse erkennbar war.
    »Natürlich habe ich recht, und überhaupt …«
    Und überhaupt, seit wann hatten sie sich nicht mehr gesehen? Seit jenem Abend, als sie ihn ins Restaurant eingeladen hatte, seit jenem Spaziergang durch das nächtliche London, seit sie mit Li May zusammenwohnte. Sie hatte viel zu tun gehabt, der Umzug, der Unterricht, das näher rückende Jahresende, die Modenschau, die sie organisieren musste, sie hatte einen Sonntag ausfallen lassen, zwei, drei, vielleicht auch vier, und als sie ihn wieder angerufen hatte, die Lippen lockend geschürzt, bereit, die verlorene Zeit wieder aufzuholen, da hatte er in diesem höflichen Ton geantwortet. Diesem schrecklichen höflichen Ton. Seit wann waren sie

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