Der langsame Walzer der Schildkroeten
Stumme Plüschtiere, Stoffbücher mit einem Buchstaben pro Seite, Mobiles, die ihn nicht schlafen ließen. Beim nächsten Mal – falls es je ein nächstes Mal geben sollte! – würde er gleich als Methusalem zur Welt kommen. Würde die Kindheit mit ihren ganzen Ärgernissen einfach überspringen. Mozart behauptete, das sei nicht möglich. Um die Lätzchen kam man nicht herum! Mozart kannte sich mit früheren Leben aus: Er vereinte sie in sich. Wie hätte ich sonst meine Opern komponieren können? Na? Weil viel Erlebtes dahinterstand. Die zahllosen Leben unbekannter Komponisten, die ich mit einem Federstrich auf den Notenlinien gerächt habe! Apropos komponieren, die Kleine Nachtmusik sollte ich mir eigentlich noch einmal vornehmen, die ist ein bisschen eintönig, findest du nicht, Albert?
Und gleich darauf, er war nicht einmal mehr dazu gekommen, ihm zu antworten, hatte man ihn auf die Erde geschickt, in eine herrliche Klinik im sechzehnten Arrondissement von Paris, Frankreich. Da oben schlugen sie sich darum, in dieser Klinik geboren zu werden. Vier Sterne. Renommierte Ärzte. Bester Service. Ein warmes Bad und Streicheleinheiten von Anfang an. Sein Leben hatte gut begonnen. Glückseligkeit, Luxus, den kleinen Hintern schön im Warmen und zwei reizende, mollige Alte, die sich über seinen blauen Strampelanzug beugten. Erst als die Fliegende Untertasse auf der Bildfläche erschienen war, hatte sich alles zum Schlechten gewendet. Als er sie zum ersten Mal gesehen hatte, hatte er aus Reflex jenes Abwehrzeichen gemacht, dass man dort oben lernt, um sich gegen das Böse zu verteidigen: Daumen und Zeigefinger zu einer Raute zusammengelegt, dem Widersacher entgegengestreckt und die Fußknöchel überkreuzt. Er hatte den Eingang verriegelt. Sie hatte nicht zu ihm durchdringen können. Aber es war ihm nicht gelungen, seine Mutter zu schützen. Sie hatte alles abbekommen.
Es wurde höchste Zeit, dass er die Dinge in die Hand nahm.
Dass er die Fliegende Untertasse ausschaltete. Sie war der Ursprung ihres ganzen Ärgers. Diese Erkenntnis verdankte er der alten Polizeiweisheit »Wem nützt das Verbrechen?«, die er auf dem Einwickelpapier eines Karamellbonbons gelesen hatte. Gar nicht so schlecht, diese Carambar-Sprüche. Sie brachten einen schnell wieder auf Kurs, wenn man so unvermittelt auf der Erde landete. Aus ihnen erfuhr man gleich, wie die Welt mittlerweile tickte. Außerdem gehörten sie zu den wenigen Dingen, die man als Baby lesen konnte, abgesehen von Stoffbüchern mit einem Vokal pro Seite. Tolle Lektüre, so was! Da brauchte man ja einen kompletten Vorhang, bis man einen Satz zusammenhatte!
Während er auf seinem Carambar herumkaute, hatte er reiflich nachgedacht und war zu dem Schluss gekommen, dass die Fliegende Untertasse sie verhext hatte. Sie hatte einen Pakt mit den Mächten des Bösen geschlossen, und hast du nicht gesehen, abrakadabra, war alles erledigt! Und dann, eines Tages, als das dumme Schaf ihn vor den Fernseher gesetzt hatte – er verbrachte seine ganze Zeit vor dem Fernseher und schaute idiotische Sendungen, die einem das Hirn aufweichten –, da hatte er etwas gesehen, was ihn an etwas erinnerte. Eine Hexe, die mit kraus gezogener Nase Zaubersprüche murmelte. Komisch eigentlich, denn diese Serie war ein großer Erfolg gewesen. Alle hatten sie gesehen und sich davon verzaubern lassen, aber niemand hatte ein Wort davon geglaubt. Sie nannten so etwas Unterhaltung. Diese Narren! Wenn sie wüssten … Unterhaltung konnte zwei Flügel auf dem Rücken oder zwei Hörner auf der Stirn haben, und dazwischen lagen Welten! Ein anderes Mal hatte er wieder einmal in seiner vollen Windel gesessen, die das hinterhältige Schaf nur wechselte, wenn ihm gerade der Sinn danach stand, und einen Film gesehen, der Ghost hieß. Angeblich ein Blockbuster, das bedeutete, dass er einen Riesenerfolg gehabt hatte. Doch statt die Lehren des Films zu beherzigen, der ganz genau zeigte, wie das dort oben so ablief, hatten sie sich bloß auf die Liebesgeschichte konzentriert! Die schöne Demi Moore, die weinend ihre Töpferscheibe drehte. An jenem Tag hatte er wie ein Irrer auf seine Legosteine eingehämmert, um die Leute aufzurütteln und ihnen begreiflich zu machen, dass es genau so war. Ganz genau so! Gut und Böse. Licht und Finsternis. Dämonen, die sich überall einschleichen, und das Licht, das gegen die dunklen Mächte kämpft. Keine Chance! Sie hatten überhaupt nichts kapiert. Er war völlig außer sich geraten
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