Der langsame Walzer der Schildkroeten
und hatte auf alles eingeschlagen, was ihm unter die Finger gekommen war. Mit seinem einzigen Zahn hatte er sich die Faust blutig gebissen, und sie hatten ihn ausgeschimpft. »Meine Güte, wie jähzornig er doch ist«, hatte Josiane gestaunt. Nicht jähzornig!, hatte er sabbernd gebrüllt, ich weiß nur, wie’s läuft!
Das Ende des Films hatte er nie gesehen. Sie hatten ihn ins Bett gebracht. An jenem Abend war er in seinem Bettchen fuchsteufelswild geworden. Er hätte die Gitterstäbe fressen können. Da kriegen die Leute eine Bedienungsanleitung, aber man zermatscht ihnen gleichzeitig das Hirn, und sie bleiben blind!
Wenn ich doch nur sprechen könnte!
Wenn ich euch nur davon erzählen könnte! Wie ihr anders leben könntet! Wie ihr euer Paradies auf Erden finden könntet, statt euch einen Platz in der Hölle zu sichern, indem ihr euren niedersten Instinkten freien Lauf lasst! Die Fliegende Untertasse wird splitternackt brennen, wenn sie noch länger mit dem Teufel herumspielt.
Heute war Sonntag. Sonntag, der 24. Mai. Seit zwei Wochen konnte er nun schon laufen, und er brannte darauf, sein Zimmer zu verlassen. Doch wie sehr er auch die Ohren spitzte, in der Wohnung war nicht der geringste Laut zu vernehmen, und diese Stille verhieß nichts Gutes. Wo war sein Vater? Was machte seine Mutter? Hatte das hinterhältige Schaf einen Tag freigenommen? Warum kam niemand ihn holen? Sein Magen knurrte erbärmlich, und der Gedanke an ein ordentliches Frühstück verlockte ihn ungemein.
Und so hatte er an diesem Tag einen Stuhl neben die Tür geschoben, um die Klinke erreichen und aus seinem Gefängnis fliehen zu können. Er würde endlich zur Tat schreiten. Gegen das Unglück ankämpfen. Er wusste, dass er eine Verbündete hatte: Madame Suzanne, die nicht wie all die anderen Ungläubigen mit Blindheit geschlagen war. Sie besuchte sie nicht mehr, hatte die Lust verloren, aber man konnte ja nie wissen, vielleicht schlug sich der Himmel auf seine Seite und sorgte in seiner unermesslichen Güte dafür, dass sie wiederkam. Er hatte dort oben um Hilfe gebeten, morgens, beim Aufwachen, in jener Stunde, in der sich Himmel und Erde verbinden, in der man seine wachen Träume an die Engel richtet.
Er öffnete die Tür, tapste hinaus in den Flur, warf einen Blick ins Wohnzimmer, in die Waschküche, fand niemanden, hastete weiter zum Zimmer seiner Mutter, und was er dort sah, ließ ihn laut aufschreien. Ein lang gezogener, schriller Schrei explodierte in seiner Brust und prallte gegen seine Mutter, die wie aus einem Traum zu erwachen schien.
Josiane hatte einen Stuhl auf den Balkon vor ihrem Zimmer gestellt – sie wohnten im sechsten Stock – und wankte darauf, unwiderstehlich von der Tiefe angezogen, in ihrem langen, weißen Nachthemd. Sie drückte ein Foto von ihrem Mann und ihrem Sohn an die Brust und schwang mit geschlossenen Augen und weißen Lippen hin und her.
Als wäre sie abrupt aus ihrer Versunkenheit gerissen worden, öffnete sie die Augen und sah zu ihren Füßen ihr Kind, das sie laut brüllend anstarrte und ihr seine kleine Hand entgegenstreckte.
»Arrgh!«, schrie er und stellte sich zwischen sie und den Abgrund.
»Junior …«, stammelte sie, als sie ihn erkannte. »Du kannst laufen? Und ich wusste es gar nicht.«
»Grumphgrumph …«, stieß er hervor und verfluchte seine Babyhülle.
»Was ist passiert?«, fragte sie und strich sich mit der Hand über die Stirn. »Was mache ich hier?«
Sie schaute auf den Stuhl, ihre Füße, den Abgrund vor ihr. Wäre um ein Haar ohnmächtig geworden. Schwankte stehend, die Arme ins Leere ausgestreckt. Junior richtete sich auf, breitete die Arme aus, um den Aufprall abzufangen, und seine Mutter landete auf seiner Brust.
Es gab einen dumpfen Aufschlag, als sie aufs Parkett rollten, das entsetzliche Geräusch zweier fallender Körper. Der Krach alarmierte das Kindermädchen, das in der Küche saß und ein Kreuzworträtsel löste. Laute Schritte näherten sich, Schreie ertönten, »Mein Gott, mein Gott! Das ist doch nicht möglich!« Das dumme Schaf zog sie hoch, vergewisserte sich, dass sie sich nichts gebrochen hatten, wiederholte immer wieder, dass es nichts gehört habe, dass es in der Küche gewesen sei und das Frühstück vorbereitet habe … Bald kam auch Marcel hinzu, rotgesichtig und erschüttert. Seine Frau, sein Kind! Mit Prellungen am ganzen Leib, leichenblass! Er rang die Hände. Die Tüte mit den warmen Croissants, die er geholt hatte, um sie zu verwöhnen,
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