Der langsame Walzer der Schildkroeten
den Stall, was? Gibt das deiner Laune die Sporen?«
»Hüte dich vor stillen Wassern, Mutter, sie sind tief. Unter ruhigen Oberflächen gären die schlimmsten Absichten. Aber das weißt du ja selbst am besten, nicht wahr? Man ist nie ganz genau die, für die die anderen einen halten.«
Sie beugte sich zum Fahrer vor und bat ihn anzuhalten.
»Ich glaube, ich gehe das letzte Stück zu Fuß. Das wird mir guttun und mir den Ansporn geben, von dem du gesprochen hast!«
Henriette sah entsetzt auf das Taxameter. Iris bemerkte ihren Blick.
»Das Zahlen überlasse ich dir … Ich habe kein Geld dabei. Tut mir leid.«
»Wenn ich das gewusst hätte, wären wir mit dem Bus zurückgefahren!«, murrte Henriette.
»Überschätz deine Kräfte nicht … Du hasst den öffentlichen Nahverkehr.«
»Da stinkt es ja auch nach Zwiebeln und Schweißfüßen!«
Iris bedachte sie mit ihrem berühmten Lächeln. Jenem Lächeln, das Taxameter und die Tücken des Lebens einfach ignorierte. Ein boshaftes Lachen blitzte in ihren Augen auf. Henriette beruhigte sich. Sie würde die Fahrt bezahlen, doch schon bald würde ihr das hundertfach vergolten werden. Sie hatte hohe Ausgaben gehabt in letzter Zeit, unvorhergesehene Ausgaben. Aber wenn alles so lief, wie man es ihr versichert hatte, würde sich dieses Flittchen von einer Sekretärin noch wundern. Mittlerweile dürfte sie sich schon nicht mehr ganz so aufspielen.
Mittlerweile spielte sie wahrscheinlich überhaupt keine Rolle mehr.
Später stand Henriette Grobz zu Hause in ihrem langen Nachthemd im Badezimmer und dachte nach. Falls Plan A nicht zum Erfolg führen sollte, hatte sie jetzt mit Iris Plan B auf den Weg gebracht. Trotz der Taxifahrt ‒ fünfundneunzig Euro plus Trinkgeld! – war ihr Tag alles in allem positiv verlaufen.
So einfach würde sie sich nicht mehr über den Tisch ziehen lassen. Bei Marcel hatte sie den Fehler begangen, nachlässig zu sein. Sie hatte sich gehen lassen, hatte geglaubt, ihr Leben sei geregelt. Schwerer Fehler. Aber sie hatte ihre Lektion gelernt: Nie wieder würde sie sich in vermeintlicher Sicherheit wiegen, sie würde vorausschauen, vorbeugen. Das Leben einer Hausfrau funktioniert nach den gleichen Gesetzen wie eine Firma. Überall lauert die Konkurrenz, stets bereit, einen auszubooten! Das hatte sie vergessen, und das Erwachen war böse gewesen.
Plan A, Plan B. Alles war organisiert.
Zärtlich betrachtete sie die Brandnarbe an ihrem Oberschenkel. Ein blasses Rechteck aus weichem, glattem, rosafarbenem Fleisch.
Kaum zu glauben, dass damit alles angefangen hatte! Ein simpler Haushaltsunfall hatte die Wende zum Besseren eingeleitet! Was war es doch für eine gute Idee gewesen, sich an diesem Tag Anfang Dezember selbst zu frisieren! Sie beglückwünschte sich aus tiefstem Herzen zu diesem Einfall und streichelte behutsam das rosige Rechteck.
Sie erinnerte sich noch ganz genau. An diesem Tag hatte sie das Glätteisen aus dem Badezimmerschrank geholt, das sie seit einer Ewigkeit nicht mehr benutzt hatte. Hatte es eingesteckt. Hatte ihr langes Haar entwirrt, das sich wie trockenes Heu im Kamm verfing, hatte es in gleichmäßige Strähnen aufgeteilt und geduldig abgewartet, bis das Eisen heiß genug war, um sie einzeln zu glätten und anschließend zu einem Knoten auf ihrem Kopf zu schlingen. Sie musste lernen, ihr Haar selbst zu richten, ohne die Hilfe von Glöckchen, ihrer jungen Friseuse. Früher, in jenen gesegneten Zeiten, als Marcel Grobz noch ihr Portemonnaie füllte, kam Glöckchen jeden Morgen zu ihr, um sie zu frisieren. Sie hatte sie Glöckchen getauft, weil sie mit ihren Feenfingern wahre Wunder vollbrachte. Und weil sie sich ihren Namen einfach nicht merken konnte. Außerdem klang »Glöckchen« ja durchaus liebevoll, was diesem armen Mädchen, einem ziemlich reizlosen Ding, nebenbei bemerkt, schmeichelte und ihr selbst einiges an Trinkgeld ersparte.
Mittlerweile konnte sie sich Glöckchens Dienste nicht mehr leisten. Geld war schließlich Geld, und sie musste auf jeden Cent achten. Wenn sie nachts auf die Toilette ging, benutzte sie eine Taschenlampe und betätigte nur jedes dritte Mal die Spülung. Anfangs hatte dieses Aufspüren unnötiger Ausgaben sie geärgert. Sie hatte sich gedemütigt gefühlt. Doch irgendwann hatte sie Gefallen an dem Spiel gefunden, und mittlerweile räumte sie bereitwillig ein, dass es ihrem Alltag einen gewissen Reiz verlieh. Morgens legte sie zum Beispiel einen Betrag fest, den ihre Ausgaben an diesem Tag
Weitere Kostenlose Bücher