Der Lavendelgarten
die cremefarbenen Rosen mit den riesigen Blüten, die ihre Mutter so geliebt hatte, dramatisch genug für die Tischdekoration waren. Solche Entscheidungen hatte Valérie jede Woche getroffen. Dafür zollte ihr Emilie im Nachhinein widerwillig Respekt.
Aber jetzt – Emilie hielt das Gesicht in die wärmende Sonne – musste sie an die Zukunft denken.
Gerard Flavier, der notaire der Familie, der sich um die juristischen Belange und das Grundeigentum der de la Martinières kümmerte, war auf dem Weg zum Château. Solange er ihr nicht dargelegt hatte, wie es finanziell um das Anwesen bestellt war, hatte es keinen Sinn, Pläne zu schmieden. Emilie hatte sich einen Monat für die Erledigung der komplexen und zeitaufwendigen Aufgaben freigenommen. Sie hätte sich Geschwister gewünscht, damit die Last auf mehreren Schultern verteilt gewesen wäre; Finanzen und juristische Finessen waren nicht ihre Stärke. Verantwortung machte ihr Angst.
Als Emilie weiches Fell an ihrem nackten Knöchel spürte, schaute sie hinunter und sah, wie Frou-Frou, der letzte verbliebene Chihuahua ihrer Mutter, sie mit traurigem Blick betrachtete. Sie nahm das altersschwache Hündchen auf den Schoß und kraulte es hinter den Ohren.
»Scheinen nur noch du und ich übrig zu sein, Frou«, murmelte sie. »Wir werden wohl oder übel aufeinander aufpassen müssen.«
Der ernste Ausdruck in Frou-Frous halbblinden Augen ließ Emilie schmunzeln. Sie hatte keine Ahnung, wie sie sich in Zukunft um den Hund kümmern sollte. Obwohl sie davon träumte, irgendwann viele Tiere um sich zu haben, waren ihre winzige Wohnung im Quartier Marais und ihre langen Arbeitszeiten nicht gerade dazu angetan, sich eines Schoßhündchens anzunehmen.
Beruflich kümmerte sie sich jedoch um Tiere. Emilie lebte für die Patienten, die ihr nicht sagen konnten, wie sie sich fühlten oder was ihnen wehtat.
»Wie traurig, dass meine Tochter sich lieber mit Tieren als mit Menschen zu umgeben scheint …«
Dieser Satz fasste Valéries Einstellung Emilies Lebensweise gegenüber zusammen. Als Emilie verkündet hatte, sie wolle Veterinärmedizin studieren, hatte Valérie verächtlich den Mund verzogen. »Ich begreife nicht, wieso du dein Leben damit verbringen willst, arme kleine Tiere aufzuschneiden und dir ihr Innenleben anzuschauen.«
»Maman, das ist der Versuch, sie zu heilen, kein Selbstzweck. Ich liebe Tiere, ich möchte ihnen helfen«, hatte sie sich verteidigt.
»Wenn schon ein Beruf, warum dann nicht in der Modebranche? Ich habe eine Freundin bei Marie Claire , die dir bestimmt eine Stelle besorgen kann. Sobald du verheiratet bist, wirst du sowieso nicht mehr arbeiten wollen und nur noch Ehefrau sein.«
Obwohl Emilie ihrer Mutter die überkommenen Vorstellungen nicht verübeln konnte, hätte sie sich gewünscht, dass Valérie ein wenig stolz auf die Leistungen ihrer Tochter gewesen wäre. Immerhin hatte diese die Universität als Jahrgangsbeste abgeschlossen und anschließend sofort in einer bekannten Pariser Veterinärpraxis angefangen.
»Vielleicht hatte Maman recht, Frou-Frou«, sagte Emilie seufzend. »Möglicherweise sind Tiere mir tatsächlich lieber als Menschen.«
Als Emilie das Knirschen von Reifen auf Kies hörte, setzte sie Frou-Frou auf den Boden und ging vors Haus, um Gerard zu begrüßen.
»Emilie, wie geht es Ihnen?« Gerard küsste sie auf beide Wangen.
»Gut, danke«, antwortete Emilie. »Hatten Sie eine angenehme Reise?«
»Ich bin nach Nizza geflogen und habe dort einen Wagen gemietet«, erklärte Gerard, als er den riesigen, der geschlossenen Fensterläden wegen dunklen Eingangsbereich betrat. »Es freut mich, von Paris wegzukommen und einen meiner Lieblingsorte in Frankreich aufsuchen zu können. Frühling im Var ist immer etwas Besonderes.«
»Ich habe mir gedacht, dass es das Beste ist, wenn wir uns hier im Château treffen«, pflichtete Emilie ihm bei. »Die Papiere meiner Eltern befinden sich im Schreibtisch in der Bibliothek. Die wollen Sie bestimmt einsehen.«
»Ja.« Gerard schritt über die ausgetretenen Marmorfliesen und betrachtete einen feuchten Fleck an der Decke. »Das Château könnte ein wenig Zuwendung gebrauchen, stimmt’s?« Er seufzte. »Es wird älter, wie wir alle.«
»Sollen wir in der Küche einen Kaffee trinken?«, fragte Emilie.
»Genau das, was ich jetzt brauche«, antwortete Gerard lächelnd, als er ihr in den hinteren Teil des Hauses folgte.
»Setzen Sie sich doch.« Emilie deutete auf einen Stuhl an dem langen
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