Der Lavendelgarten
Aasgeier zu kreisen. Bisher sind bei mir mehr als zwanzig Briefe eingegangen von Leuten, die behaupten, in irgendeiner Weise mit den de la Martinières verwandt zu sein. Vier bis dato unbekannte Geschwister, die Ihr Vater außerhalb der Ehe gezeugt haben soll, zwei Cousins, ein Onkel und eine Pariser Hausangestellte Ihrer Eltern aus den sechziger Jahren, die schwört, dass Ihre Mutter ihr einen Picasso versprochen hat.« Gerard lächelte. »Das alles kommt nicht unerwartet, doch leider muss nach französischem Recht jeder dieser angeblichen Ansprüche überprüft werden.«
»Glauben Sie, dass irgendeiner davon berechtigt ist?«, fragte Emilie mit großen Augen.
»Das wage ich zu bezweifeln. Falls Sie das tröstet: Das ist noch bei jedem von der Öffentlichkeit wahrgenommenen Todesfall so gewesen, mit dem ich bisher zu tun hatte.« Er zuckte mit den Achseln. »Überlassen Sie das mir, und machen Sie sich keine Gedanken. Konzentrieren Sie sich lieber auf das Château. Wie gesagt: Die Schulden Ihrer Mutter lassen sich leicht durch die Veräußerung des Pariser Hauses und seines Inhalts begleichen. Dann bleibt noch dieses prächtige Anwesen, das, soweit ich das beurteilen kann, dringend saniert werden muss. Egal, zu welchem Entschluss Sie gelangen: Sie sind und bleiben eine wohlhabende Frau. Wollen Sie das Château verkaufen?«
Emilie seufzte tief. »Offen gestanden wäre es mir am liebsten, wenn sich diese Fragen einfach in Luft auflösen würden, Gerard. Wenn jemand anders die Entscheidung für mich träfe. Und was ist mit den Weinbergen? Wirft die cave etwas ab?«
»Damit muss ich mich noch eingehender beschäftigen«, antwortete Gerard. »Falls Sie beschließen sollten, das Château zu verkaufen, ließe sich der Weinhandel als laufendes Geschäft inkludieren.«
»Das Château verkaufen …«, wiederholte Emilie Gerards Worte. Sie laut ausgesprochen zu hören verdeutlichte ihr, wie groß ihre Verantwortung war. »Dieses Haus befindet sich seit zweihundertfünfzig Jahren im Besitz unserer Familie. Und nun soll ich so eine Entscheidung treffen.« Sie seufzte. »Ich habe keine Ahnung, was das Beste ist.«
»Das kann ich mir denken. Es ist schwierig, weil Sie allein sind.« Gerard schüttelte den Kopf. »Leider können wir es uns nicht immer aussuchen. Ich versuche, Ihnen zu helfen, wo ich kann, Emilie, weil ich weiß, dass Ihr Vater das unter den gegebenen Umständen von mir erwartet hätte. Ich mache mich jetzt frisch, und später könnten wir zum Weinberg hinübergehen und mit dem Verwalter sprechen.«
»Gut«, antwortete Emilie müde. »Ich habe die Fensterläden in dem Zimmer links von der Haupttreppe aufgemacht. Von dort aus hat man einen sehr schönen Blick. Soll ich es Ihnen zeigen?«
»Nein, danke. Wie Sie wissen, bin ich nicht das erste Mal hier. Ich finde mich schon zurecht.«
Gerard stand auf, nickte Emilie zu und verließ die Küche. Auf halber Höhe der Treppe blieb er stehen und betrachtete das verblichene Gesicht eines Vorfahren der de la Martinières. So viele der französischen Adelsfamilien starben aus, ohne nennenswerte Spuren zu hinterlassen. Gerard fragte sich, wie der große Giles de la Martinières auf dem Porträt – Kriegsherr, Adeliger und, wie manche behaupteten, Geliebter von Marie Antoinette – sich fühlen würde, wenn er wüsste, dass die Zukunft seines Geschlechts auf den schmalen Schultern einer einzelnen jungen Frau ruhte. Einer Frau, die Gerard immer merkwürdig gefunden hatte.
Während seiner zahlreichen Besuche bei den de la Martinières hatte Gerard ein schüchternes, selbstgenügsames Kind kennengelernt, das nicht auf Zuneigung von ihm oder anderen reagierte. Ein Kind, das distanziert, fast schon mürrisch wirkte. Gerard war der Meinung, dass seine Arbeit als notaire nicht nur den Umgang mit Zahlen umfasste, sondern auch die Fähigkeit, die Gefühle seiner Mandanten zu ergründen.
Emilie de la Martinières war ihm ein Rätsel.
Bei der Beerdigung ihrer Mutter hatte ihre Miene nichts über ihre Emotionen verraten. Immerhin war sie als Erwachsene deutlich attraktiver als in ihrer Kindheit. Doch selbst jetzt, da sie mit dem Verlust ihrer Mutter sowie mit einer ganzen Reihe schwieriger Entscheidungen konfrontiert war, erlebte Gerard sie nicht verletzlich. Das Leben, das sie in Paris trotz ihrer adeligen Herkunft führte, hätte sich nicht stärker von dem ihrer Vorfahren unterscheiden können.
Gerard stieg, ein wenig verärgert über ihre zurückhaltende Reaktion, weiter
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