Die Peststadt
Hans Kneifel
DIE PESTSTADT
An diesem nebligen Nachmittag brannte die Stadt Nyrngor an drei Stellen.
Aus den Dächern und Erkern entlang den Hauswänden schlugen prasselnd die roten Flammen. Schwarzer Rauch trieb in großen Wolken in der kühlen Herbstluft. Die Häuser zwischen der Stadtmauer und dem Palastplatz waren ineinander verschachtelt und lehnten ihre Mauern gegeneinander. Die vielen Giebel bildeten ein Muster aus Dreiecken; die dicken Bohlen der Fachwerke glühten hell, aus den Fensterhöhlen schlug heulend das Feuer. Frauen, Kinder und nur wenige Männer bildeten zwischen Brunnen und Häusern lange Ketten. Lederne Eimer flogen von Hand zu Hand.
Am Haus des Stiefelmachers standen Männer auf schwankenden Leitern und leerten die Eimer in die Flammen. Dampf wallte zischend auf und mischte sich mit dem Rauch. Bemooste Flanken der Türme und Mauern, aus Quadern aufeinandergetürmt, waren schwarz von Ruß und Dämpfen. Hängepflanzen waren längst verbrannt, und lange Spuren aus Schmutz, Asche und Wasser rannen an den Mauern herunter. Wimmernde Stimmen erhoben sich durch das Prasseln und Knistern und riefen in den engen Gassen hallende Echos hervor.
»Helft uns!«
»Die ganze Gasse wird verbrennen!«
Aus dem rauhen Umland Nyrngors, aus Dandamar und Eislanden, waren Raubvögel und schwarze Raben in gewaltigen Scharen gekommen. Sie hatten sich gesammelt und hockten jetzt in langen Reihen auf den Ästen, die ihr Laub verloren hatten. Ab und zu, wie auf magische Kommandos, schwangen sich die Vögel in die Luft und bildeten Schwärme. Dann schossen sie hinunter, um die Leichen der Caer und der Krieger von Nyrngor zu zerfetzen.
Letzte Wassergüsse löschten einen Brand. Für eine Häusergruppe schien die Gefahr gebannt.
Durch die Gasse der Tauschläger und Ölhändler donnerte das Geräusch von Hufen. Eine Abteilung der Leibwache Königin Elivaras sprengte in die Richtung des Hafentores. Mitten zwischen den Kriegern ritt die zwanzigjährige Tochter König Carnens. Ihr hüftlanges Haar war aufgesteckt, ihre bernsteinfarbenen Augen schienen Blitze zu schleudern. Die Reiter galoppierten auf den Platz hinaus, wo neben dem Brunnen der riesige Thalisbaum mit weißer Rinde stand.
Knappe Kommandos gellten zwischen den Häuserwänden. »Wir helfen ihnen! Der erste Brand ist gelöscht. Und wenn die Vorräte der Ölhändler brennen?«
Die Gardisten sprangen aus den Sätteln und warfen die Zügel rußverschmutzten Knaben zu. Mit langen Sätzen kletterten die Leibwachen auf die Leitern, ersetzten Frauen und Kinder und rissen die Eimer hoch. Sie schrien sich aufmunternde Worte zu. In doppelter Eile wanderten die überschwappenden Eimer die Kette entlang, wurden gekippt und ergossen ihren Inhalt in die Flammen und über die Glut.
Für kurze Zeit vergaßen sie alle, dass der Schwarze Tod die Stadt in ihrem unerbittlichen Würgegriff hielt.
»Schneller! Mehr Wasser! Weg mit der Leiter!«
»Auseinander - der Erker bricht herunter!«
Brennende Funken schwirrten unablässig hoch. Wieder zischte Wasser auf glühendem Gebälk. Eine Leiter kippte um; zwei Männer blieben mit zerschmettertem Schädel verkrümmt auf dem Pflaster liegen. Man tauchte Mäntel und Teppiche ins Wasser und schlug mit ihnen auf die Flammen. Eine Frau, deren Haar brannte, lief kreischend durch die Menge. Ein Gardist hielt sie fest, ein anderer schüttete den halbvollen Kübel über ihren Kopf aus. Die Pferde der Leibwache konnten nur mühsam gezügelt werden. Immer wieder scheuten sie vor den Flammen und den Hilfeschreien.
Königin Elivara richtete sich in den Steigbügeln auf, hob eine Hand an den Mund und rief: »Sie können sich jetzt selbst helfen! Weiter! Der Feind bricht beim Hafentor durch!«
Das hatte jedenfalls der Bote hervorgestoßen, ehe er auf den Treppen des Schlosses zusammengebrochen war. Aber die Schreie der Verteidiger, die jede Botschaft stafettenartig von Haus zu Haus, von Turm zu Turm weitergaben, hatten von einem neuen Angriff, nicht aber von einem Durchbruch gesprochen.
Die Leibwächter schwangen sich ächzend in die Sättel. Der Trupp ritt weiter, galoppierte um die Hausecken und zog sich auseinander, als ein Pestkarren auftauchte. Niemand von den Soldaten achtete auf den dumpfen Gesang der schwarzgekleideten Scholaren, von denen die verhüllten Leichen begleitet wurden. Elivara warf einen schmerzlichen Blick auf den Karren, dessen Scheibenräder mahlend über die Pflastersteine rollten. Die Stadt und ihre nächste Umgebung
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