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Der Leibarzt der Zarin

Der Leibarzt der Zarin

Titel: Der Leibarzt der Zarin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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des Igor Igorowitsch Blattjew.«
    »Mein Himmel, wo? In einem Haus? Nicht unter dem Kreml?«
    »Natürlich unter dem Kreml. Wie dumm stellst du dich, Brüderchen! Solltest wohl spionieren, was? Solltest melden, was wir hier unten tun, wenn der Herrscher uns nicht braucht, he? Sag ihnen da oben: Wir leben gut. Wir haben keine Wünsche. Wir sind treue Diener des erhabenen Zaren. Wir sind die gehorsamsten Ratten auf dieser Welt …«
    »Wir? Du bist hier nicht allein, Mütterchen?«
    »Du überlistest mich nicht.« Die Frau zeigte mit dem gebogenen Messer den Gang entlang. Hatte sie bisher noch recht mutig gesprochen, so wurde ihre Stimme jetzt demütig. »Überzeuge dich und berichte es oben. Wir haben die Gnade des Zaren nicht verraten.«
    Trottau zog die Fackel aus dem Eisen und ging den steinernen Gang hinunter. Die Frau war hinter ihm. Lautlos, gespenstisch.
    »Wohin, Mütterchen?« fragte Trottau. In ihm stieg langsam das Grauen hoch und lähmte ihn.
    »Du kennst den Weg, du Auge des Zaren.«
    »Mütterchen, hör mich gut an: Ich bin nicht vom Zaren geschickt worden. Der Zar ist in Litauen. Ich bin ein Deutscher und erst seit kurzer Zeit in Moskau. Ich bin der Arzt der Zarin …«
    »Ein Arzt? Hier unten ein Arzt?« Das graue Gespenst begann zu lachen. »Warum schickt man so dumme Lügner zu uns?«
    »Ich bin wirklich Arzt, Mütterchen. Ich heiße von Trottau, ich behandle die Zarin. Kennst du die Zarin?«
    »Du fängst mich nicht.« Die Alte versteinte wieder. »Ich gebe dir darauf keine Antwort.«
    »Die Zarin hat langes schwarzes Haar.«
    »Das weiß jedes Kind in Moskau.«
    »Ihr linkes Auge ist ein wenig heller als das rechte.«
    »Das kann keiner nachprüfen.«
    »Wenn sie lacht, legt sie beide Hände auf ihre Brust.«
    »Und wenn sie den Zaren küßt?«
    »Das weiß ich nicht. Der Zar ist in Litauen. Aber wenn sie küßt …« Trottau holte tief Atem. Es kann mich den Kopf kosten, dachte er. Aber ich muß dieses Geheimnis unter dem Kreml ergründen. »Wenn sie küßt, wirft sie den Kopf weit in den Nacken und scheint in den Armen ihres Geliebten zu schweben …«
    Die alte Frau lehnte sich plötzlich an die feuchte Wand und verbarg das lange Messer hinter ihrem Rücken. »Das ist nicht wahr!« stammelte sie. »O Jesus im Himmel, bei den Tränen der Gottesmutter … Ihr seid wirklich ein Arzt?« Sie fiel auf die Knie und berührte mit der Stirn die Steine. »Gnade, Herr! Schlagt ein dummes Weib, aber laßt es leben. Gnade!«
    »Um Gottes willen, steh auf, Mütterchen!« Trottau bückte sich, zog die Frau hoch, und als sie ihm die Hand küssen wollte, wehrte er sie ab. »Ich habe mich verlaufen. Wo bin ich hier?« fragte er.
    »Ein Arzt«, stammelte die Frau wieder. Aus ihren Augen quollen Tränen. Ein Stein weint, dachte Trottau. Er war so erschüttert, daß er die Frau nicht mehr abwehrte, als sie wieder vor ihm auf die Knie fiel.
    »Ich habe gebetet«, sagte sie. »Auch hier unten kann man beten. Vier Jahre lang habe ich gebetet. Es wird lange dauern, bis es zu Gott kommt, habe ich gesagt. Die Mauern sind so dick, und darüber ist die Erde und dann der Kreml. Aber man muß alles langsam durchbohren. Und ich habe mich an die Luftkanäle gestellt – das ist der schnellste Weg – und habe gebetet: Gott im Himmel, Heilige Mutter, du Sohn voller Schmerzen, vergiß uns nicht! Laß ein Wunder hier in die Tiefe kommen. Und das Wunder ist gekommen. Ihr seid Arzt …«
    »Vier Jahre«, sagte Trottau tonlos. »Du lebst vier Jahre unter der Erde?«
    »Zwanzig Jahre, Herr. Hier unten hat Igor sein Kind gezeugt, hier wurde Xenia geboren. Ich habe eine Steinwand, in die ich jeden Tag einritze. Ihr könnt es nachzählen – jeder Tag ein Strich. Es sind zwanzig Jahre.«
    Die alte Frau wischte sich mit dem Handrücken die Tränen vom Gesicht und ging an Trottau vorbei den Gang weiter. »Kommt«, rief sie. »O mein Gott, mein Gott – ein Arzt!« Und plötzlich schrie sie. Der Klang hallte von den Wänden zurück. »Igor!« schrie sie. »Igor – ein Arzt! Lobet Gott …«
    Der Gang wurde breiter, und nach einer scharfen Biegung blieb Trottau wie geblendet stehen. An den Wänden leuchteten Fackeln. Auf steinernen Konsolen brannten trübe Öllampen. Durch Löcher in der gewölbten Decke, die in Kanäle münden mußten, zog der Rauch ab.
    In der Tür eines Zimmers stand ein Mann. Kleiner als Trottau, aber breit wie ein Eichenschrank, in faltigen Hosen und mit Lappen umwickelten Beinen. Darüber trug er ein weites Bauernhemd

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