Der Leibarzt der Zarin
und bewachten ihn – einen Mann, der vor Schmerzen zitternd auf das Feuer starrte und langsam, ganz langsam, vom rechten festgenagelten Fuß aufwärts, den Tod in sich hochschleichen spürte.
Zwei Tage und drei Nächte lebte Schemski noch. Fieber durchraste ihn, er war keines Gedankens mehr fähig. Vor seinen Augen löste sich die Welt in heiße Nebel auf. Er spürte keine Schmerzen mehr, nur eine eisige Kälte, obwohl er schutzlos in der Sommersonne lag und aus dem Aschenberg seines Hauses immer noch die Glut über ihn hinwegzog.
Als Schemski starb, kam ein Wind auf und trieb die heiße Asche über seinen Körper. So deckte ihn sein Haus zu wie mit einem Tuch.
»Es ist ein Wunder zu uns gekommen, Igor«, sagte Massja Fillipowna und umarmte ihren Mann. »Ein Arzt! Der Arzt der erhabenen Zarin. Ein Deutscher …«
Igor Igorowitsch Blattjew schüttelte den massigen Kopf und grunzte etwas. Es war schauerlich anzuhören, aber seine Frau schien ihn zu verstehen, als seien diese schrecklichen Laute wirklich Worte. Sie drehte sich zu Trottau um.
»Er sagt, es gäbe keine Wunder. Verzeiht es ihm, Herr – sein Beruf verhärtet sein Herz.«
»Was macht ihr hier unten?« fragte Trottau wie gelähmt. »Warum hat der Zar ihm die Zunge herausreißen lassen?«
»Es war der große Zar Wassili.« Massja hob die Schultern. Warum sollte sie darüber sprechen? Es war so lange her. Es war damals geschehen, als man sich zum erstenmal Bären anschaffte, als Zar Wassili mit seinen Freunden unter dem Kreml die alten Gänge ausbauen ließ und einen Mann brauchte, der schweigen konnte. Für immer schweigen.
Die Wahl fiel auf Blattjew. Es hätte auch jeder andere sein können. Aber Blattjew war kräftig wie ein Stier und dem Zaren treu ergeben, selbst dann noch, als die ewige Stummheit über ihn kam.
Dann zogen sie hinunter in diese steinerne Gruft unter dem Kreml. Damals war Massja dreiundzwanzig Jahre alt und Blattjew dreißig. Und von diesem Tage an hatte er die Gänge und Kammern hier unten nie mehr verlassen. Er lebte mit dem Licht der Fackeln und Öllampen, mit dem Schimmelgeruch, den nassen Steinwänden – und mit seiner Aufgabe, die Zar Wassili seinem Sohn Iwan vererbte und für die Blattjew auf immer stumm sein mußte.
Söhnchen aus Deutschland, dachte Massja, auch wenn du Arzt bist – warum jetzt noch darüber sprechen …
»Es ist eine Ehre«, sagte Massja einfach. »Er wurde mit einem Amt betraut, das Schweigen fordert.« Sie blickte das stumme, bärtige Monstrum liebevoll an. »Er ist glücklich, glaubt es mir. Aber dann kam Xenia, und seit vier Jahren flehe ich den Zaren an, uns einen Arzt zu schicken. Aber er hört mich gar nicht an. Einmal habe ich mich ihm vor die Füße geworfen. Er ist über mich hinweggestiegen wie über eine Treppenstufe. Und jetzt habt Ihr Euch hierher verirrt …« Sie sah Blattjew an. »Es gibt Wunder, Igorenka.«
Blattjew stieß wieder seine schrecklichen dumpfen Töne aus. Dann verbeugte er sich tief und blieb so stehen – tiefste Demut in einem Grab …
»Er sagt, Gott möge ihm verzeihen, daß er Euch nicht tötet. Denn wer außer dem Zaren und der Zarin hier erscheint, muß getötet werden … Igor wird Euch vergessen, als wäret Ihr nie dagewesen.«
»Aber ich bin hier, und ich sehe Menschen, denen man das Leben gestohlen hat!« Trottau blickte sich um. Die unterirdischen Gewölbe waren hier anders. Die gute Entlüftung war ihm eben schon aufgefallen, und er erkannte im Schein der vielen Fackeln, daß mehrere Zimmer von dem Platz abgingen, wo sie standen. Kammern mit dicken Vorhängen vor den Türöffnungen und ein paar Räume, die mit eisenbeschlagenen Bohlentüren verschlossen waren. Trottau sah einen Tisch und mehrere Hocker, einen Schrank an der kahlen Steinwand und auf einem Regal eine Reihe irdener Töpfe. Die Wohnung eines lebendig Begrabenen. Blattjews Welt des Schweigens.
»Sieh mich an, Igor Igorowitsch.« Trottau berührte den immer noch in gebückter Haltung Dastehenden. »Was ist hier los? Bewacht ihr etwas? Verschwinden hier etwa die Gefangenen, von denen man im Kreml munkelt, der Zar lasse sie vorführen, und keiner habe sie danach mehr gesehen?«
Massja winkte ab. »Ihr seid ein Arzt. Euch gehen die Kranken an, weiter nichts.«
»Ich bin nicht nur ein Arzt der Menschen – ich heile auch die kranke Gerechtigkeit!«
Massja Fillipowna schlug die Hände zusammen. »Wie lange wollt Ihr leben, Herr? Kommt mit …«
»Wohin? Ich will erst wissen, was Blattjew hier
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