Der Leibarzt der Zarin
bewacht.«
»Du sollst es sehen.«
Mit einem brüllenden Laut warf sich Blattjew zwischen seine Frau und Trottau. Er hob die Arme und krümmte die Finger. Der dicke Kopf pendelte hin und her. Er erinnerte Trottau an einen Bären, der hinter seinem Käfiggitter in schrecklicher Monotonie den Schädel wiegt.
Blattjew riß den Mund auf. Die gurgelnden Töne überschlugen sich. Dann preßte er die Fäuste gegeneinander und knirschte mit den Zähnen. Trottau verstand ihn plötzlich: Wenn du weitergehst, wenn du Massja folgst, wirst auch du für immer hier unten bleiben.
Mit einer Kraft, die Trottau der Frau nie zugetraut hätte, packte Massja ihren Mann an beiden Schultern und riß ihn herum. »Was kümmert mich der Zar!« schrie sie. Verblüfft sah Trottau, wie sie den Mann schüttelte, als sei er nur ein Sack voller Knochen. »Hat der Zar mich angehört? Seit vier Jahren flehe ich ihn an: Einen Arzt, Herr – nur einmal einen Arzt! Und er stieg über mich hinweg und stützte sich mit seinem Possoch auf meinen Rücken. Willst du die Narbe wieder sehen? Willst du? Hier – hier!«
Sie riß sich das Kleid von der Schulter. Graue Haut kam zum Vorschein, ein breiter Rücken – und in der linken Schulter eine breitgezackte, rote, aufgequollene Narbe. Die Spur der eisernen Possochspitze.
Blattjew stieß einen rauhen Klagelaut aus, ergriff das Kleid und streifte es Massja wieder über. Dann legte er beide Hände vor das Gesicht und drehte sich zur Wand.
»Kommt«, sagte Massja zu Trottau. »Seht es Euch an. Eine Mutter fürchtet nichts, auch den Zaren nicht. War Euer Mütterchen auch so?«
»Ich kannte sie kaum, sie starb früh.« Trottau trat an Blattjew heran und drehte ihn an der Schulter um. »Ich kann dich verstehen. Du hast Angst. Aber was ich auch sehen werde – ich kann schweigen wie du.«
Blattjew starrte Trottau aus bettelnden Augen an. Er kannte die Gefahr, die ein einziges Wort über diese Kammern unter dem Kreml für ihn bedeuten würde.
Sei gnädig, feines Herrchen, bettelten die Augen. Massja ist ein gutes Weib. Sag selbst, wer hätte es zwanzig Jahre lebend im Grab ausgehalten? Aber man gewöhnt sich an den Fackelschein wie an eine neue Sonne. Man gewöhnt sich an einen Mund ohne Zunge, und wenn der Zar hier herunterkommt, beugt man den Nacken und führt seine Befehle aus wie ein Ochse im Joch. Wir haben zu essen, wir haben zu trinken, und wir leben schon zwanzig Jahre in Ruhe. Aber geh nur mit meiner Massja, geh … Wir wollen uns dann überlegen, was mit dir geschieht …
»Ich habe das Vertrauen der Zarin«, sagte Trottau langsam in Blattjews Augen hinein, die all seine Gedanken wiederspiegelten. »Soll ich mit ihr sprechen?«
Blattjew warf mit einem Schrei die Arme hoch. »Nein«, rief Massja. »Es wäre unser Ende! Du wirst es verstehen, wenn du alles gesehen hast. Kommst du jetzt?« Sie verzichtete nun auf die Anrede ›Herr‹. Sie nahm Trottau mit dem Du in ihre unterirdische Gemeinschaft auf. Trottau spürte es, und der letzte Rest von Angst fiel von ihm ab.
»Was soll ich hier?« fragte er.
»Helfen, Brüderchen. Wenn du noch helfen kannst«, sagte Massja leise. Sie gingen einen kurzen Gang entlang bis zu einer Bohlentür. Massja stieß sie auf und trat zur Seite.
Der steinerne Raum war hell erleuchtet. Ein Bett, mit zerschlissenen Fellen überzogen, stand an der langen Wand. Und auf dem Bett saß ein Wesen, daß Trottau mit großen, blauen Augen anstarrte.
Ein Wesen, zart und durchsichtig, mit langem, blondem Haar, das bis zur Erde reichte. Ein Wesen, so unwirklich schön, traurig und weltenfern, daß Trottau in der Tür stehenblieb und keinen Schritt weitergehen konnte.
»Das ist Xenia«, sagte Massja. In ihrer Stimme lag eine selige Welt von mütterlicher Zärtlichkeit. »Unsere Tochter …«
4
Trottau erwachte aus seiner Erstarrung, als er hinter sich das stapfende Geräusch von Blattjews Stiefeln hörte. Er spürte Blattjews Atem in seinem Nacken, aber die Laute, die dieser arme Mensch hervorbrachte, diese stammelnden, kehligen Töne, erschreckten Trottau nicht mehr. Er blickte Xenia an.
Ist so etwas möglich? dachte er. Eine Blume im Grab … Eine von Licht umflossene, gebrechliche Eisblume, deren Augen sich bewegen, deren Brust atmet, deren Haar im Fackelschein glitzert, als seien unzählige Tautropfen hineingeflochten.
»Er bittet dich, Xenia zu untersuchen!« sagte Massja Fillipowna. »Du weißt nicht, welch ein Wunder dich zu uns führte. Hier ist noch nie ein Arzt
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