Der leiseste Verdacht
mulmiges Gefühl, wenn er an den Zweck seines Ausflugs dachte. Ein ums andere Mal sagte er sich, dass er keine Schuld daran trug. Umstände, die sich seinem Einfluss entzogen, hatten ihn in diese beklemmende Situation gebracht. Doch was half die Erkenntnis, dass er schuldlos daran war? Seine Nachrichten würden das Leben seines Freundes nachhaltig erschüttern. Was dies für ihre langjährige Freundschaft bedeutete, daran wollte er gar nicht erst denken.
Und wie stand es um seine Arbeitsmoral? Es zwang ihn doch niemand, tagaus, tagein in seinem Büro zu hocken, um unzählige Telefonate zu erledigen, den nie versiegenden Strom an Besuchern zu empfangen und sich durch Aktenberge zu fressen, die seinen Schreibtisch zu ersticken drohten. Der Sinn dieser täglichen Plackerei – das redete er sich jedenfalls ein –
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war eine Minderung der Arbeitsbelastung, war die Hoffnung, die Aktenberge eines Tages vollständig abgetragen zu haben.
Als er Martin, seinem fünfundzwanzigjährigen Sohn, von diesem Ansinnen erzählte, hatte der nur herzlich lachend erwidert: »Vergiss es, Papa! Die Aktenberge werden nie kleiner werden. Du solltest lieber damit anfangen, mehr an dich selbst zu denken. Es dankt dir keiner, wenn du dich zu Tode schuftest.« Das Wahre an dieser Bemerkung war so schwer verdaulich, dass er sich fürs Erste nicht weiter mit ihr beschäftigte.
Eigentlich war er kaum jemandem Rechenschaft schuldig, was seine Arbeitsmethoden betraf, und auch seine Zeiteinteilung ging niemanden etwas an. Dennoch stiegen an einem solchen Tag uralte Erinnerungen in ihm auf, an sonnendurchflutete Tage, an denen er einst die Schule geschwänzt hatte. Tage, die lust- und angstvoll zugleich gewesen waren. Die Missachtung von Regeln und Verboten war noch nie seine Sache gewesen, und schon als Kind hatte er dies als persönliche Schwäche betrachtet. Das Schuleschwänzen, heimliches Rauchen und andere Dinge, die für die meisten in einem gewissen Alter selbstverständlich waren, hatten ihm stets Gewissensbisse bereitet. Aber natürlich hatte er die Verachtung seiner gleichaltrigen Freunde mehr gefürchtet als alles andere, also hatte auch er sich in der Kunst des Ungehorsams geübt und sein Kreuz in aller Stille getragen. Doch allmählich hatte er die Ursache seiner Furcht vor Regelübertretungen erkannt. Sie lag in dem Bild, das er sich von seinem Vater gemacht hatte. Er war wie ein beharrlicher Schatten, der nie von seiner Seite wich und in seiner selbstgerechten Güte über all seine Handlungen urteilte und richtete.
Seine beiden Eltern entstammten freikirchlich geprägten Elternhäusern. Seine Mutter war zu wirklicher Güte imstande gewesen, wenngleich er sie vorwiegend eingeschüchtert und unterdrückt in Erinnerung hatte. Sein Vater war machtbesessen 83
und scheinheilig gewesen. Sein unbeugsamer Wille hatte sich weniger durch lautstarke Forderungen als vielmehr durch unheilvolles Schweigen und subtilen Sarkasmus bemerkbar gemacht. Er dominierte das Leben der gesamten Familie mit seiner ebenso maß- wie freudlosen Pedanterie. Obwohl sein Tod schon viele Jahre zurücklag, geschah es immer noch, dass Hauptkommissar Stenberg harte Gewissenskämpfe mit ihm ausfocht.
Dass er sich für den Beruf des Polizisten entschieden hatte und sich für die Einhaltung der Gesetze engagierte, betrachtete er als eine Ironie des Schicksals. Der Vater war mit der Berufswahl des Sohnes zufrieden gewesen, und da diesem allein der Gedanke zuwider war, es dem Vater recht zu machen, wurde er ein rebellischer Polizist. Methodisch hatte er seine Abneigung gegen ein formalistisches Rechtsverständnis und die vorgefassten Anschauungen vieler Kollegen entwickelt. Für ihn war es eine Frage der Disziplin, zu allen Formfragen eine entspannte und unkonventionelle Haltung einzunehmen. Er hielt sich für einen guten Polizisten und zählte die Vorbehalte vonseiten seiner Kollegen und Vorgesetzten, denen er sich im Lauf der Jahre gegenübersah, zu seinen Verdiensten. Ein Rebellentum, das er durch sein übertriebenes Verantwortungsbewusstsein, das ihn mit Haut und Haar zu verschlingen drohte, teuer bezahlte.
Sein Freund PM war in vieler Hinsicht das krasse Gegenteil von ihm. Vermutlich hatte er deswegen eine so tiefe Zuneigung zu ihm gefasst.
Sie kannten sich, seit sie im Alter von sieben Jahren gemeinsam die Grundschule besucht hatten. Roffe hatte unverhohlene Bewunderung für den vorlauten Patrik empfunden, der Kieselsteine gegen die Schulfenster schleuderte,
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