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Der leiseste Verdacht

Der leiseste Verdacht

Titel: Der leiseste Verdacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helena Brink
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ins Badezimmer und blieb dort eine ganze Weile. Die Tür war nicht geschlossen, also bin ich schließlich hin, um nachzusehen, was er tut. Er hatte sich ganz ausgezogen und die Kleider auf den Boden geworfen. Sie waren blutverschmiert, genauso wie seine Haare und sein Gesicht. Sogar die Arme waren bis weit nach oben voller Blut. Ich habe mich fürchterlich erschrocken und schrie und schrie und schrie … Da hat er mich auf den Mund geschlagen, um mich zum Schweigen zu bringen. Dann hat er gebrüllt, dass er mich umbringt, wenn ich etwas sage. Er ist wie wild herumgesprungen und hat mir seine blutigen Hände vors Gesicht gehalten. Er sah aus, als hätte er den Verstand verloren.
    Dann ging er unter die Dusche und befahl mir, die blutigen 179
    Kleider in die Waschmaschine zu stopfen und die Blutflecken auf dem Boden aufzuwischen. Es war ein Albtraum. Ich war wie betäubt und tat, was er mir sagte. Nachdem er geduscht hatte, ging er sofort ins Bett und schlief ein. Er kann das jederzeit, einfach so einschlafen. Ich habe mich nicht getraut, mich auch hinzulegen, also bin ich zurück ins Wohnzimmer gegangen. Ich weiß nicht, wie lange ich dort gesessen habe, ich glaube, mehrere Stunden lang. Mir war schrecklich kalt, und ich konnte nicht aufhören zu zittern, obwohl ich mich in eine Decke gewickelt hatte. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Nie zuvor hab ich solche Angst gehabt und mich so einsam gefühlt. Ich konnte nicht mal weinen. Dann hatte ich das Gefühl, etwas in mir sei zerbrochen. Nicht in meinem Körper, sondern in meiner Seele. Erst tat es fürchterlich weh, dann wurde ich ruhig und hörte auf zu zittern. Ich packte meine Sachen zusammen, mein Geld und ein paar Kleider. Dann bin ich gegangen. Ich wollte nur noch weg von Marco und ihn nie mehr wiedersehen. Das war es, was so wehgetan hat. Ich hatte aufgehört, ihn zu lieben.
    Jetzt habe ich nur noch Angst vor ihm. Deswegen habe ich auch nicht das Auto genommen. Das Motorengeräusch hätte ihn wecken können.«
    Katharina hatte das Gefühl, etwas schnüre ihr den Brustkorb zusammen. Sie musste tief durchatmen, damit der Druck ein wenig nachließ. Ihr Herz schlug schwer und unregelmäßig. Was war ihr eigener Albtraum gegen dieses Grauen? Die
    Unwirklichkeit der Situation betäubte sie. Was sollte sie tun?
    Tief Luft holen und nachdenken. Herrgott, Verbrechen geschahen doch jederzeit. Warum sollte das bei ihr anders sein?
    Ein anderes, »normales« Leben, was immer das sein mochte, schien ihr zurzeit wie ein unerreichbares Ideal.
    Ein ältere Frau, die Zeitungen austrug, ging quer über die Straße. Sie sah wohltuend durchschnittlich und normal aus. In Gedanken versunken, warf sie den beiden Frauen im Auto einen zerstreuten Blick zu. Katharina verspürte den unsinnigen Drang, 180
    ihr hinterherzurufen und sie um Rat zu fragen, doch sie war nicht in der Lage, sich zu rühren. War man nicht verpflichtet, die Polizei zu verständigen, wenn man erfuhr, was sie erfahren hatte? Aber was hatte sie eigentlich zu erzählen? Die verworrene Geschichte einer verängstigten Frau, die, zum Äußersten getrieben, gerade vor ihrem Mann weggelaufen war. Konnte sie ihrem haarsträubenden Bericht wirklich Glauben schenken? Sie blickte verstohlen zu Annika Fermi hinüber, die heulend und schniefend einen unbeholfenen Versuch unternahm, mit Hilfe eines Kamms und eines Taschenspiegels ihr Äußeres wieder in Ordnung zu bringen. Sie machte, gelinde gesagt, einen überspannten Eindruck, und sollte ihre Geschichte der Wahrheit entsprechen, dann grenzte es an ein Wunder, dass sie sich nicht in einem noch bedenklicheren Zustand befand. Aber gab es irgendeinen Grund, alles zu glauben, was sie erzählt hatte? Dass er sie misshandelt hatte, stand wohl außer Frage. Aber die anderen Einzelheiten klangen wie Szenen aus einem Thriller.
    Und warum hatte sie ihr nicht gleich davon erzählt? Vielleicht litt sie an Wahnvorstellungen und konnte es nicht bleiben lassen, sich furchtbare Geschichten auszudenken. Vielleicht wurde sie dafür von ihrem Mann geschlagen. Katharina fühlte sich der Situation einfach nicht gewachsen. Außerdem hatte sie Kopfschmerzen. Sie hatten begonnen, als sie sich auf den Weg in die Stadt begeben hatte, und waren seitdem nur schlimmer geworden. Die Frage war, ob sie Annika guten Gewissens am Bahnhof absetzen konnte. War sie in der Verfassung, sich selbst zu helfen?
    Als könnte Annika ihre Gedanken lesen, fragte sie: »Glaubst du mir etwa nicht?«
    Als Katharina schwieg,

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