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Der leiseste Verdacht

Der leiseste Verdacht

Titel: Der leiseste Verdacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helena Brink
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gewesen.
    Und warum auch nicht? Auch sie hatte schließlich gehandelt.
    Aber das Bild war sonderbar. Anders. Bis jetzt war es nur eine Skizze, aber das Motiv war deutlich zu erkennen. Zwei in einem Kreis gefangene Gesichter waren zu einer Art Januskopf verschmolzen. Das eine Profil war dunkel auf hellem Grund, während das andere einen hellen Kontrast auf dunkler Fläche bot. Sie musste an ein Mandala denken. Hastig wandte sie dem Bild den Rücken zu. Dachte daran, dass er sich scheute, anderen seine Arbeiten im Entwicklungsstadium zu zeigen. Dann verließ sie das Atelier und trottete zum Schlafzimmer zurück. Auf dem 186
    Weg fand sie ein Stück Papier und schrieb:

    Patrik!
    Ich bin immer noch wütend auf dich, also ziehe keine falschen Schlüsse. Aber ich habe es nicht ertragen, länger von zu Hause fort zu sein. Du ahnst nicht, was ich heute Morgen erlebt habe.
    Es kommt mir vor, als sei ich wochenlang fort gewesen. Ich bin sehr müde und furchtbar traurig. Ich werde heute nicht arbeiten.
    Weck mich nicht vor drei Uhr. Dann möchte ich das Frühstück ans Bett haben.

    Sie las den Brief noch einmal durch und fand ihn allzu distanziert, wenn sie an ihre Empfindungen von vergangener Nacht dachte. Sie fügte einen weiteren Satz hinzu: Ich habe gründlich nachgedacht und bin zu der Einsicht gelangt, dass ich dich leider immer noch liebe, obwohl du ein hoffnungsloser Fall bist.
    Deine gespaltene Ehefrau

    Sie bohrte mit dem Finger ein Loch in den Zettel und befestigte ihn an der Türklinke zum Schlafzimmer. Dann schloss sie die Tür hinter sich, zog sich rasch aus und kroch in das kalte Bett.
    187
    16
    Freitag, 5. Mai
    Nachdem sie eine Weile durch die nordöstlichen Außenbezirke Christiansholms geirrt waren, bog Lasse Wagnhärad schließlich in den Uttervägen, hielt nach den Briefkästen Ausschau und parkte vor der Hausnummer 5. Er stellte den Motor ab und wandte sich Bergh zufrieden zu.
    »Endlich geschafft!«, sagte er. »Und zu Hause scheinen sie auch zu sein. Jedenfalls steht der Wagen vor der Garage.«
    Bergh nickte und wollte aussteigen.
    »Warte«, sagte Wagnhärad. »Ich muss erst meine Gedanken ordnen.«
    Missbilligend betrachtete er den aus weißen Sandsteinziegeln bestehenden Bungalow. Aus unerfindlichen Gründen hegte er eine eingefleischte Aversion gegen Sandsteinziegel. Der Bungalow mit seinen großen Drehkippfenstern und der Haustür aus Teakholz, die von geschmacklosen Glasmosaiken
    eingerahmt wurde, stammte sicherlich aus den sechziger Jahren.
    Der Vorgarten, der offensichtlich mit Hilfe von Zollstock und Wasserwaage angelegt worden war, stimmte ihn nicht milder.
    Eine exakt zugeschnittene Thujenhecke umzäunte das fantasielose Rasenrechteck mit den schnurgeraden Beeten, in denen sich aufgereihte Tulpen mit Zuchtrosen abwechselten, die sich immer noch im Knospenstadium befanden.
    Wagnhärad fand den Anblick beklemmend.
    »Wie findest du das Haus?«, fragte er.
    Bergh warf einen kurzen Blick auf das Gebäude. »Schön, warum?«
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    »Weil es nicht schön, sondern schrecklich ist«, sagte Wagnhärad mit Überzeugung.
    »Aha«, murmelte Bergh und schaute noch einmal hin, um zu entdecken, was ihm möglicherweise entgangen war.
    Wagnhärad streckte die Hand nach seiner Aktentasche aus.
    »Komm, bringen wir’s hinter uns.«
    Bergh drückte beherzt auf den Klingelknopf. Sie hörten im Inneren des Hauses ein trockenes Läuten. Eine groß gewachsene knochige Frau um die sechzig öffnete die Tür, musterte sie mit eisigem Blick und wollte sie vermutlich auf der Stelle abwimmeln.
    Wagnhärad zückte seinen Dienstausweis, lächelte ihr freundlich zu und sagte: »Guten Tag, wir sind von der Polizei.
    Wir hätten Herrn Ragnar Sandström gern ein paar Fragen gestellt. Sind Sie Frau Sandström?«
    Die Frage erübrigte sich, braun gebrannt, wie sie war und wie man es nach einem dreiwöchigen Urlaub auf Rhodos auch erwarten konnte. Ihre grauen Augen weiteten sich erschrocken, ehe sie nickte und einen Schritt zur Seite trat, um sie ins Haus zu lassen. Den Dienstausweis schaute sie sich nicht an. Die beiden Polizisten blieben im Eingangsbereich stehen, während sie mit einer gemurmelten Entschuldigung verschwand, um ihren Mann zu holen. Ein überfütterter Dackel mit melancholischem Blick ließ sie nicht aus den Augen.
    Auch Ragnar Sandström war braun gebrannt und ebenso schwergewichtig wie sein Dackel. Er war bedeutend kleiner als seine Frau, hatte einen imposanten Stiernacken, recht lange Arme und einen extrem

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