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Zeit der Raben - Ein Inspektor-Rutledge-Roman

Titel: Zeit der Raben - Ein Inspektor-Rutledge-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Todd Ursula Gnade
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1.
    DUDLINGTON, 1919
    Constable Hensley lief leise durch Frith’s Wood und sah sich rechts und links nach Anzeichen dafür um, ob vor ihm schon andere hier gewesen waren. Aber das matschige Laub ließ nichts erkennen, und die kalte Sonne, die schräg durch unbelaubte Bäume fiel, war wenig tröstlich. Schon bald würde es dunkel sein. Um diese Jahreszeit war das Licht nie von Dauer, ganz im Gegensatz zu den hellen Sommerabenden, wenn es zu verweilen schien, als nähme es das Anschleichen der Dämmerung überhaupt nicht wahr.
    Und insbesondere an diesem einen Sommerabend …
    Er erreichte den Waldrand, kehrte um und machte sich auf den Rückweg zu der kleinen Lichtung, auf der er sein Fahrrad abgestellt hatte.
    Auf halbem Wege hätte er schwören können, dass sich jemand hinter ihm bewegte. Ein leiser Schritt, kaum wahrnehmbar, doch seine Ohren waren darauf eingestellt, die schwächsten Geräusche zu beachten.
    Er drehte sich im Kreis und suchte die Bäume um sich herum ab, doch durch das dichte Unterholz und das Gewirr der Stämme war niemand zu sehen. Kein Lebender …
    Reine Einbildung, sagte er sich. Nervosität, entgegnete eine kleine Stimme in seinem Kopf, und gegen seinen Willen schauderte er.
    Dann lief er weiter, ohne noch einmal hinter sich zu schauen,
bis er sein Fahrrad erreicht hatte und aufgestiegen war. Dann sah er sich ein letztes Mal in Frith’s Wood um und fragte sich, wie ein so kleines Wäldchen derart trostlos und irgendwie bedrohlich wirken konnte, sogar im Winter.
    Die Sachsen, hieß es, hätten einst Männer hier geköpft, vor langer Zeit. Sie hatten keine Gefangenen genommen, die sie doch nur in ihrem Fortkommen behindert hätten, denn sie waren ausschließlich auf Beute aus. Sie hatten es nicht auf Sklaven, Land oder Bauernhöfe abgesehen, sondern nur auf Gold und Silber und was sich sonst noch zu Hause eintauschen ließ. Ein habgieriges Volk, dachte er und trat in die Pedale. Habgierig und blutrünstig, nach allem, was man so hörte. Aber fast fünfzehnhundert Jahre später war der Name des Wäldchens immer noch unverändert. Und niemand legte Wert darauf, es nach Einbruch der Dunkelheit zu betreten.
    Er war froh, wieder draußen zu sein.
    Und doch spürte er immer noch, dass ihn jemand beobachtete, jemand am Waldrand, wesenlose Gestalten, die keine Realität besaßen. Höchstwahrscheinlich Tote. Oder deren Geister.
    Ein ganz bestimmter Geist.
    Er sah sich nicht mehr um, bis er die Hauptstraße erreicht hatte. Als die Felder hinter ihm lagen und er sich weiter von dem Wäldchen entfernt hatte, fühlte er sich wieder sicherer. Jetzt konnte er in die Pedale treten und den Weg einschlagen, auf dem er hergekommen war, in die Abzweigung am Oaks einbiegen und nach Dudlington hinuntersausen. Jeder, der ihn sah, würde glauben, er sei im Pub gewesen oder nach Letherington bestellt worden. Er war geschickt vorgegangen und hatte seine Spuren verwischt. Es war vernünftig, vorauszuplanen und nicht aufs Geratewohl loszustürmen. Wenn er schon unbedingt hingehen musste.
    Natürlich hätte sich ein wirklich kluger Mann ganz von dort ferngehalten, sagte er sich.
    Auf dem Weg hinter ihm war immer noch niemand zu sehen.

2.
    LONDON, SILVESTER 1919
    Als sie auf dem Marlborough Square aus dem Taxi stiegen, sagte Frances: »Maryanne wird sich riesig freuen, dich zu sehen. Es wird ihr guttun.«
    »Ja, das mag schon sein, aber erwarte bloß nicht von mir, dass ich Bridge spiele«, erwiderte Rutledge halb im Scherz, halb im Ernst. Seit einer Stunde bemühte er sich, sie davon zu überzeugen, dass er gut gelaunt war. Wenn es galt, Schatten auf seinem Gesicht zu entdecken, war sie schon immer allzu schnell bei der Hand gewesen. »Du hast doch nicht etwa das letzte Mal vergessen? Bei den Moores? Man hat mir diese grässliche Frau als Partnerin zugeteilt, wie hieß sie noch mal? Stillwell? Sie hat jedes Blatt seziert, dass einem übel davon werden konnte. Fast ein Jahr lang hatte ich die Nase voll von diesem Spiel!«
    Er hörte ein Tor hinter ihnen quietschen, als jemand aus dem Garten kam und sich schnell entfernte. Der Polizist in ihm registrierte, dass die Schritte dann innehielten, ein anderes Tor ein paar Häuser weiter geöffnet und geschlossen wurde und dann wieder Stille herrschte.
    »Man spielt doch nicht Bridge, um ins neue Jahr hineinzufeiern, du Dummerchen! Außerdem solltest du wissen, dass Maryanne sich nichts aus Kartenspielen macht«, meinte seine Schwester, während sie die Stufen zur Tür von

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