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Der letzte Aufguss

Der letzte Aufguss

Titel: Der letzte Aufguss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Sebastian Henn
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aussah. Er vermutete, dass sein Telefon den ganzen Tag nicht
stillgestanden hatte. Auch jetzt klingelte es, die Sekretärin hob ab und sprach
auffallend leise in den Hörer.
    Was folgte, war Small Talk der höflich-britischen Art. Man redete
allerhand, nur nicht über Themen, die das Gegenüber in eine unangenehme
Situation bringen könnten – weil es dazu nichts beitragen oder anderer Meinung
sein konnte. Die Zeiten mochten sich ändern, Computer und Internet Einzug
halten, doch die Gesprächsregeln der Insulaner änderten sich nicht.
    Am besten, das wusste Bietigheim noch aus seiner eigenen Zeit in
Cambridge, sprach man tatsächlich über das Wetter. Irgendwann schaffte er es,
den Master beiseitezunehmen, doch erst nachdem er die Eigenarten des englischen
Regens durchdekliniert hatte, kam er zu seinem eigentlichen Anliegen.
    Â»Worüber haben meine beiden Vorgänger zuletzt geforscht? Hatten sie
ein gemeinsames Projekt?«
    Ein strenger Blick traf ihn. »Sie denken doch nicht etwa, dass dies
etwas mit den schrecklichen Morden zu tun haben könnte?«
    Â»Das liegt meines Erachtens durchaus im Bereich des Möglichen.«
    Â»Befassen Sie sich nicht damit, das liegt hinter uns, ein für alle
Mal.«
    Â»Aber …«
    Â»Mein lieber Kollege!« Der Master legte wieder seinen Arm von der
Größe einer Anakonda um ihn. »Leider sind Sie nur für ein Semester bei uns,
weil Sie zu unserem größten Bedauern in Hamburg verbleiben möchten. Deshalb
zermartern Sie sich bitte nicht den Kopf, solange Sie hier sind. Lassen Sie die
Toten ruhen. Sie müssen in Ihrer Zeit auch überhaupt nicht forschen, das
erwartet niemand von Ihnen. Überlassen Sie das Ihrem Nachfolger, den es
allerdings noch zu finden gilt.«
    Â»Für was bin ich denn dann hier?«
    Â»Den Stoff durchzunehmen – auf Ihre besonders eindringliche Art. Ich
weiß, dass es schwerfällt, sich darauf zu konzentrieren, aber denken Sie
einfach nicht an die Morde. Soll ich Sie zu Ihrem Sprechzimmer bringen? Wir
müssen jetzt alle wieder an die Arbeit. Den restlichen Kuchen lasse ich Ihnen
gerne bringen und das Bier natürlich auch. Es passt nicht wirklich dazu, aber
was weiß ich schon von deutschem Geschmack? Dafür sind Sie ja der Experte!« Er
lachte herzhaft. »Und wir sehen uns heute Abend zum Dinner in unserer Hall,
dann stelle ich Sie den Studenten vor. Eine kleine Rede wird drin sein, da bin
ich sicher. Und danach, so habe ich es läuten hören, haben die Kollegen zu
Ihren Ehren noch ein Pub-Quiz organisiert.«
    Ein Pub-Quiz? Das wurde ja immer besser.
    Wenig später standen sie vor dem Sprechzimmer des Professors. Der
Master machte auf dem Absatz kehrt. Dann drehte er sich noch einmal um. »Erschrecken
Sie nicht. Ich mag übrigens den deutschen Humor!«
    Erschrecken? Wieso erschrecken? Und als besonders humoristisch hatte
der Professor ihr Gespräch gar nicht empfunden.
    Bietigheim öffnete die Tür zu seinem Sprechzimmer, sah hinein – und
war dreifach überrascht, um nicht zu sagen: geschockt. Erstens, weil der Raum
die Größe einer Besenkammer hatte, zweitens, weil nichts darin stand bis auf
einen Tisch, einen Stuhl, ein leeres Regal und einen Papierkorb. Nichts, nicht
einmal eine Haarschuppe, schien von seinem Vorgänger übrig geblieben zu sein.
    Und drittens, und das war die größte Überraschung, saß bereits
jemand auf seinem Stuhl. Und zwar so, als gehörte ihm nicht nur dieser, sondern
auch der Raum dazu, und wo man schon mal dabei war, das College und eigentlich
auch Cambridge, wenn nicht das ganze Königreich. Der Besetzer des Stuhls schaffte
es, wie eine Katze jegliches Gebiet durch seine bloße Anwesenheit zum
Herrschaftsbereich zu erklären. Sein Name: Pit Kossitzke. Wenn er in einem Raum
saß, wirkte dieser eng, und sei es ein Fußballstadion. Pit hatte seine
Haarpracht konzentriert – und zwar auf das Kinn. Lang und weiß spross sie dort.
Den Kopf trug er blank und poliert. Seinen Körper hüllte er mit Vorliebe in
schwarzes Leder, und bei seinem Speiseplan konzentrierte er sich auf das
Wesentliche: Fleisch. Wer mit ihm aß, fühlte sich in die Steinzeit
zurückversetzt: Mammut muss sterben, denn Mann hat Hunger! Den Professor und
ihn verband eine lange Freundschaft, die man diesen so ungleichen
Persönlichkeiten gar nicht zugetraut hätte. Doch das Schicksal hatte sich

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