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Der letzte Aufguss

Der letzte Aufguss

Titel: Der letzte Aufguss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Sebastian Henn
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KAPITEL
1

    White Darjeeling
    Professor Adalbert Bietigheim stand vor der Tür eines
viktorianischen Reihenhauses im Osten Cambridges. Ohne das hübsche Äußere auch
nur eines Blickes zu würdigen, steckte er ungeduldig seinen Schlüssel ins
Schloss, denn die britische Geistesmetropole hatte ihn mit fiesem Nieselregen
begrüßt, der bereits von der Krempe seines Borsalino-Hutes tropfte. Kein
Wunder, dass die Briten schon immer eine Seefahrernation waren. Dieses Wetter
trieb einen förmlich in andere Gefilde.
    Die Koffer des Professors hatte der Taxifahrer einfach auf den
Bürgersteig gestellt und war davongebraust. Unverschämtheit! Dabei hatte
Bietigheim ihm auf der Fahrt einen vollkommen kostenlosen Kurzvortrag über
angemessenes Tempo und die Nachteile des Linksverkehrs gehalten.
    Undank ist der Welten Lohn!
    Ohne auch nur das geringste Knarren öffnete sich die Tür und gab den
Blick frei auf einen kleinen Flur mit einer steilen Treppe. Beinahe wäre der
Professor auf einen DIN-A5-Umschlag getreten, der mit »Bietigheim« beschriftet
war und den jemand durch den Briefschlitz eingeworfen haben musste. Der Ordnung
halber hob er ihn auf, beschloss jedoch, ihn erst später zu öffnen.
    Zur Linken führte eine Tür ins Wohnzimmer, das einem
Sherlock-Holmes-Film entsprungen schien. Im Kamin knisterte ein Feuer, das
bestimmt die Haushälterin entzündet hatte. Ein dunkelgrünes Chesterfield-Sofa
beherrschte den Raum, die Tapete war in rotem Schottenmuster gehalten, dazu
viel dunkles Holz und Regale mit ledergebundenen Büchern. Der Rauch von
unzähligen Pfeifen, die die Professoren über Jahrhunderte hier geschmaucht
hatten, hing in den Wänden. Vermutlich hatten sie ihren Tee in dem mächtigen Ohrensessel
genommen, direkt neben dem Fenster, durch das man in den sprießenden Garten
blicken konnte.
    Bietigheim fühlte sich auf Anhieb wohl.
    Seinen letzten beiden Vorgängern war es sicher nicht anders
ergangen.
    Allerdings waren sie nun tot.
    Ermordet.
    Gnu, dachte Adalbert Bietigheim prompt. Und: Phenolphthalein. Seit
Kurzem wanderten seine Gedanken, wenn er unruhig war, zu ungewöhnlichen oder
komplizierten Wörtern. Natürlich gestand er sich diese kleine
Verdrängungstechnik nicht ein, sondern betrachtete sie als unregelmäßig
auftretende, aber ungemein liebenswerte Marotte.
    Auf dem Tisch lagen die »Cambridge Evening News«. Bietigheim stellte
sich daneben, die Arme auf dem Rücken verschränkt, und blickte auf die
Titelseite. Dort prangte ein Farbfoto seines Vorgängers, Professor Jonathan
Cleesewood. Ein Mann, der immer so aussah, als hätte er einen Arm und ein Bein
zu viel, mit denen er nicht wüsste, wohin. Er war die personifizierte britische
Ungelenkigkeit. Sein Gesicht war blasser als Ziegenfrischkäse, weshalb seine
Kollegen in der Kulinaristik mutmaßten, dass er den ganzen Tag – und die ganze
Nacht – nichts anderes machte, als in seinem Büro zu arbeiten. Ihm war unter
anderem eine revolutionäre Arbeit über die Krümeligkeit von Teegebäck zu
verdanken. Auch über Pudding und Pies hatte er Grundlegendes zu Papier
gebracht. Und in Sachen grüner Tee gehörte er zu den europäischen Koryphäen.
    Auf dem Foto allerdings lag er in einem der typischen Stechkähne
Cambridges, Punting-Boot genannt. Genauer gesagt lag er in einer Flüssigkeit,
mit der das Boot gefüllt war. Es war Tee, teuerster White Darjeeling, in dessen
Genuss er nun allerdings nicht mehr kommen würde. Auch von der
gesundheitsfördernden Wirkung aufgrund des hohen Polyphenolgehalts würde er
nicht mehr profitieren können. Blutdrucksenkend sollte weißer Tee auch sein.
Das zumindest stimmte in diesem Fall, denn tiefer als bei einem Toten konnte
der Blutdruck kaum sinken.
    Bietigheim fühlte sich ein wenig an die Bestattungsriten der
Wikinger erinnert, die ihre toten Krieger in voller Rüstung in ein Boot legten,
dieses zu Wasser ließen und dann in Brand steckten, bevor es sich auf seine
Reise ins Reich Walhalla begab.
    Cleesewoods Vorgänger Tim Shropsborough hatte man auf dieselbe
skurrile Art hergerichtet. Timothy Martin James Charles Eugene, 17. Earl von
Shropsborough, war ein Exzentriker gewesen. Seine grauen Haare hatte er zu
einem geflochtenen Pferdeschwanz gebunden, sein Bart glich dem Salvador Dalís,
und seine Kleidung stammte nahezu ausschließlich von seiner guten

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