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Der letzte Elf

Titel: Der letzte Elf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvana DeMari Silvana De Mari
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um vor Angst, Tracarna oder Stramazzo oder eines der Verlassenen könne sie sehen.
    In das Waisenhaus kam man entweder als echte Waise, das heißt als Kind verstorbener Eltern, oder als verlassenes Kind, das heißt als Kind von Eltern, die fortgezogen waren und ihren Nachwuchs in der Obhut der Hyänen zurückgelassen hatten. Die Verlassenen waren ans Verlassenwerden gewöhnt und dagegen abgestumpft. Auf die eine oder andere Weise hatten sie schon im zartesten Alter Hunger und Grausamkeit überlebt, es hatte bereits eine Auslese stattgefunden und sie hatten diese Bedingungen als Grundlage der eigenen Persönlichkeit und des Lebens überhaupt angenommen; daraus folgte unweigerlich Verachtung, ja Hass auf all jene, die in irgendwelchen verborgenen Winkeln ihres Gedächtnisses Erinnerungen an Zärtlichkeit und Behagen bewahrten. Die ausgesetzten Kinder kannten Tracarna und Stramazzo seit jeher und wurden von diesen auch fast gemocht, freilich innerhalb der eng gesteckten Grenzen der ihnen möglichen Zuneigung. Durch ihr bloßes Dasein waren die Verlassenen der lebende Beweis dafür, dass die Behandlung, die die Hyänen ihren Zöglingen angedeihen ließen, mit deren Überleben vereinbar war. In gewisser Weise waren sie das Aushängeschild des Waisenhauses.
    Die Verlassenen hatten einen einzigen, uneingestandenen Traum: Eines Tages würde jemand kommen und sie holen, ein König oder eine Königin würden an die Tür des Waisenhauses klopfen, um ihr geliebtes Kind abzuholen, das durch schreckliche Ereignisse verloren gegangen war, bei einem Erdbeben verschüttet, von einer Überschwemmung in einem Weidenkörbchen fortgerissen, aus reiner Boshaftigkeit von Riesen, Trollen, Elfen, Werwölfen und Ähnlichem entführt und dann ausgesetzt.
    Doch Tag um Tag verging und niemand klopfte an die Tür. Tatsächlich gab es ja nicht einmal eine Tür, an die ein König, eine Königin oder wer auch immer hätte klopfen können und fragen, ob ihr teurer Sohn oder ihre geliebte Tochter zufällig dort war. Es gab ja nur das Schaffell, das beiseitegeschoben wurde, um die Hyänen und eventuelle »zeitweilige Aufsichtspersonen« einzulassen, die kamen, um für ihre Arbeiten Kinder anzuheuern, und mit Tracarna den Preis aushandelten, während Stramazzo unter einer Weide saß, eins der kleinsten Kinder bei sich, das ihm Kühlung zufächelte und die Fliegen verscheuchte, und sein Gesicht vor Langeweile im Ausdruck der vollkommensten und reinsten Idiotie immer länger wurde.
    Aber man weiß ja nie. Die Verlassenen, selbst die Größten unter ihnen, denen jegliche Form von Unschuld oder Glauben vollständig abhandengekommen war, nährten doch alle auf dem Grunde ihres Herzens den Traum vom König oder der Königin, die eines Tages mit einer Kutsche voller Süßigkeiten bei dem Schaffell vorfahren würden.
    Die echten Waisenkinder kamen ohne die erforderliche Abhärtung ins Waisenhaus und in die Obhut der beiden Hyänen, ja, häufig in einer Verfassung, die durch Heimweh und wehmütige Erinnerungen den neuen Umständen noch weniger angemessen war. Dazu kamen dann noch die Hyänen, zu deren grundlegenden Pflichten und Aufgaben es gehörte, in den jungen Gemütern jedes Gefühl von Zuneigung auszurotten, das nicht der Grafschaft von Daligar galt.
    Aber nicht nur das. Alle menschlichen Wesen, selbst die schlechtesten, ja, meist vor allem die schlechtesten, haben das ausgeprägte Bedürfnis, geliebt oder doch wenigstens nicht allzu sehr gehasst zu werden. Im verzweifelten und ausdruckslosen Blick der Kinder, bei denen an die Stelle von Mama und Papa die Hyänen und an die Stelle von Brot und Käse Maisbrei mit Würmern getreten waren, lauerte, verborgen unter Hunger und Angst, zwischen Verzweiflung und Demütigung, der Hass.
    Oft war der Tod der Eltern des fraglichen Kindes nicht durch Elend, an dem gleichwohl kein Mangel bestand, und auch nicht durch Epidemien oder Hunger verursacht worden, sondern durch eine gezielte Maßnahme des Verwaltungsrichters, der zum Wohl seines Volkes mit der geheiligten Strafe des Hängens nicht eben geizte. Das vermehrte auf der einen Seite den Hass in den Blicken der Kinder, auf der anderen die hämische Freude der Hyänen, Strafen zu verhängen, Essensrationen zu kürzen und das Arbeitspensum zu erhöhen.
    Die Maßnahmen des Verwaltungsrichters konnten eine Verurteilung zum Tod durch den Strang oder eine Verbannung ins Exil sein, Letztere verbunden mit der Auflage, die Kinder zurückzulassen, da sie als Eigentum der

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