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Der letzte Elf

Titel: Der letzte Elf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvana DeMari Silvana De Mari
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war Robi blitzartig herumgefahren, weil sie meinte, Tracarna stünde hinter ihr. Als sie sicher war, dass hinter ihr niemand war, dass der Fremde sich also tatsächlich an sie wandte, überstiegen ihre Wut und ihr Ärger über diesen unerträglichen Clown - Yorsch, hatte er gesagt, hieße er -, der erst ihre Hoffnungen auf ein Abendessen zunichte -, sich dann über sie lustig gemacht hatte und sie nun auch noch verspottete, die ohnehin sehr eng gezogenen Grenzen ihrer Geduld. Sie bückte sich, hob einen Ast auf und schwang ihn gegen den Fremden: »Ich bin kleiner als du, aber ich kann fester zuschlagen als du«, unterrichtete sie ihn drohend, »und wage bloß nicht, sie noch einmal anzufassen«, setzte sie, mit einer Kopfbewegung auf Cala deutend, hinzu, ohne den Blick von ihm zu wenden.
    Der Fremde war äußerst bestürzt. Er zitterte noch immer und rang nach Luft, und da er nicht auf die Beine kam, ragten Robi und ihr Stock über ihm in die Höhe.
    »Verzeih mir, meine Herrin! Wenn ich Eure Bräuche verletzt habe, so geschah das ohne Vorsatz...! Hmmm... Exzel... nein? Dummko… nein, das auch nicht.«
    Robis Gesichtsausdruck wurde immer finsterer und drohender; ihre Hände umklammerten den Ast noch fester. Der Fremde machte ein Gesicht wie jemand, der sich an etwas erinnert, öffnete ein besticktes blaues Samtsäckchen, das er um den Hals trug, und holte ein Holzschiffchen und eine kleine Stoffpuppe hervor; die Haare bestanden aus Schafwolle und waren mit der grünen Schale von Walnüssen gefärbt, sodass sie schwarz und kraus waren wie Robis Haar.
    »Das gehört dir, nicht wahr?«, sagte der Fremde und hielt ihr die Dinge hin. »Die habe ich in Arstrid gefunden. Ich habe sie dir wiedergebracht.«
    Diesmal war Creschios Blick wirklich voll unverhohlenen Spotts und mitleidiger Herablassung. Auf der einen Seite wünschte Robi, der Fremde solle verschwinden, im Sumpf versinken, im Schlamm untergehen, ein Drache solle kommen und ihn mitnehmen, auf der anderen Seite sah sie ihr Bötchen und ihre Puppe an mit dem sehnlichen Verlangen, sie noch einmal anfassen zu dürfen. Das Bild ihres Vaters stand ihr vor Augen, wie er aus einem Buchenscheit den Rumpf des Bootes schnitzte, und das ihrer Mutter, wie sie aus ihrem eigenen Kleiderstoff das Kleidchen für die Puppe zuschnitt. Das war alles, was ihr von ihnen blieb.
    Sie streckte die Hand aus und nahm die beiden Dinge wortlos an sich.
    »Was ist in Arstrid passiert?«, fragte der Fremde sanft.
    Schmollend sah Robi ihn an, dann ließ sie den Ast langsam sinken.
    »Es wurde zerstört«, stieß sie hervor.
    »Warum?«
    Robi schwieg. Sie hatte keine Lust, sich zu erinnern. Sie hatte keine Lust zu reden.
    »Warum?«, wiederholte der Fremde.
    »E-go-is-mus«, buchstabierte Robi müde.
    »Und was heißt das?«
    Robi schwieg.
    »Sie haben nicht genug Steuern gezahlt«, mischte sich Creschio in die Unterhaltung ein. »Sie wollten nicht zahlen«, erklärte er weiter mit distanzierter Würde, wobei er die Betonung auf »wollten« legte und damit Tracarna nachahmte.
    »Sie konnten nicht!«, protestierte Robi verzweifelt. »Es war unmöglich!«
    Der Fremde nickte nachdenklich, dann wandte er sich wieder an Robi.
    »Sind die Bewohner am Leben?«
    Robi nickte.
    »Und wo sind sie?«, fragte der Fremde weiter.
    »Sie sind auf die andere Seite der Schattenberge geflohen, hinter dem Wasserfall, sie leben jetzt am Meer.« Das war kein Geheimnis. Die Soldaten wussten es. Sie hatten die Flüchtlinge nie verfolgt, ganz einfach weil sie zu viel Angst hatten vor dem Wasserfall.
    »Kennst du einen Mann namens Monser und eine Frau namens Sajra?«, fragte der Fremde weiter.
    Schweigen.
    »Kennst du einen Mann namens Monser und eine Frau namens Sajra?«, wiederholte der Fremde.
    Schweigen. Robi fühlte, wie ihre Lippen zu zittern anfingen und ihr Tränen in die Augen traten. Krampfhaft presste sie das Boot und die Puppe an sich. Sogar Creschio wagte keine spöttische Bemerkung.
    »Das waren mein Papa und meine Mama«, sagte sie leise. Wenn sie tief durchatmete und langsam sprach, würde sie es vielleicht schaffen, nicht zu weinen.
    »Waren?«, drang der Fremde weiter in sie.
    Nein, sie würde es nicht schaffen, nicht einmal wenn sie langsam sprach und tief durchatmete. Robi fing an zu weinen.
    »Man hat sie gehängt«, sagte Creschio.
    Der Fremde wurde aschfahl im Gesicht.
    »Warum?«, fragte er mit erstickter Stimme, als er sie nach einem langen Moment, in dem sie weggeblieben, wiederfand.

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