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Der letzte Grieche

Der letzte Grieche

Titel: Der letzte Grieche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aris Fioretos
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Wünschelruten aus allerlei Holz – verdrehte Äste, klatschende Zweige, staubiges Unterholz – und ging in der näheren Umgebung auf Wasserjagd. Er stellte Konservendosen auf, lud die Engel ein, in diese zu urinieren, und änderte von Zeit zu Zeit die Standorte, weil er sich einbildete, ihr Muster beeinflusse den Niederschlag. Würden zwölf Dosen, die sich zu einer Schleife formten, nicht besser geeignet sein, die Engel gnädig zu stimmen, als ein Stern, der auf den Schultern der Soldaten so eckig und geometrisch war? »Jetzt pisst schon«, murmelte er, während er die Gefäße umstellte. Eine Zeit lang versuchte er, ein Lasso um die Wolken zu werfen und sie an den Bäumen festzuzurren, um sie anschließend wie Ziegen melken zu können. Die Dorfschneiderin, die sein Interesse für die Kollaboration zwischen höheren Mächten und Wolken teilte, brachte ihm umständliche Zauberformeln voller Spinnweben und Hühnerknochen bei. Und kurz nachdem er seine Schullaufbahn begonnen und beendet hatte, entwickelte er ein System aus Blechlöffeln, Zahnrädern, einer Fahrradkette, der Pedale einer Nähmaschine und reichlich Stahldraht, mit Hilfe dessen er bis in die Tiefe des Meeresspiegels zu bohren gedachte.
    Er kam nicht weiter als eine Armlänge, dann wurden seine Pläne von einem neuen Gesetz durchkreuzt. Die VERORDNUNG ZUR BEWAHRUNG DES WASSERS , ratifiziert in Thessaloniki und damals auch in den Ministerien jenseits der Grenze viel diskutiert, wurde angenommen, als der Bürgerkrieg beendet war und das Land seine natürlichen Reserven inventarisierte. Wie vieles im Griechenland der fünfziger Jahre war sie nicht sonderlich demokratisch. Als der Dorfgeistliche die Proklamation im Kaffeehaus verlas, seine Brille ein Stück vor die Nase haltend und den runden Hut aus der Stirn zurückgeschoben, war Jannis acht Jahre alt. Mittlerweile wusste er fast alles darüber, was den Planeten blau färbte. Aber nicht einmal er hätte sich träumen lassen, was nun Gesetz wurde. Fortan, hieß es in jener Mischung aus Pathos und Pedanterie, durch die sich Bürokraten auf dem Balkan gerne hervortun, solle das Grundwasser als »ein Gut von zunächst staatlicher und dann himmlischer Bedeutung« betrachtet werden. Ausgüsse, Badewannen und Springbrunnen, Kanäle und Kloaken – alles, was »diszipliniertes« Wasser erfordere, unterstehe nunmehr dem mächtigen Amt für Hydrologie in der Themistokleosstraße. »Diszipliniert?«, fauchte einer der Männer im Kaffeehaus. Es war der Besitzer persönlich, Leonidas Stefanopoulos, ein Mann mit gelben Pupillen und zerfurchtem Gesicht, der nur wenige Wochen später sterben sollte. »Demnächst stecken sie auch noch den Regen ins Gefängnis.«
    Wer die Dreistigkeit besaß, einen Brunnen anlegen zu wollen, konnte die Erlaubnis dazu bei der nächstgelegenen Gendarmerie einholen, die einen knapp einstündigen Ritt bergabwärts in Neochóri lag. Anschließend musste er allerdings die Kosten für eine Inspektion tragen, die nur von staatlich geprüften Hydrologen durchgeführt werden durfte. Deren Besuche führten in aller Regel zu Meinungsverschiedenheiten, die zur Folge hatten, dass Hoffnungen »im Sande verliefen«. Letzteres war ein Fachbegriff, der bedeutete, dass Sandsäcke in den Brunnen entleert wurden – trotz der Geldscheine, die man gleichzeitig und möglicherweise aggressiver als nötig, in die Taschen der Hydrologen stopfte. Die Mehrzahl der Gebirgsbewohner blieb folglich weiter auf Regenschauer, Wasserläufe und den Eisverkäufer angewiesen, der die Gegend stets besuchte, als geschähe es zum letzten Mal.
    In Jannis’ Kindheit konnte man die Apokalypse noch auf den Straßen umherziehen sehen. Obwohl die Dorfbewohner Scherze über den Mann machten, der seinen Esel mit Mundgeräuschen antrieb, die längst jeder Bedeutung entbehrten, wagte es doch niemand, in seiner Gegenwart zu lästern. Dazu fürchtete man viel zu sehr, ihn zu verärgern. Mit Grauen und Misstrauen erzählte man sich immer noch von Achladochóri, einem Dorf auf der anderen Seite des Berges, wo einem verärgerten Notar herausgerutscht war: »Wir bezahlen nicht für gefrorene Eselspisse. Hast du Haare in den Ohren, Alter? Es stinkt zum Himmel, wenn es schmilzt.« Einen ganzen Sommer lang habe die Apokalypse sich daraufhin geweigert, den Ort zu besuchen (sicher nur ein Gerücht), außerdem hieß es, der Notar habe seine neugeborene Tochter in Ziegenmilch taufen lassen müssen und sei schließlich vor Scham gestorben (auch dies

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