E.M. Remarque
Der Feind
Als ich meinen
Schulkameraden Leutnant Ludwig Breyer fragte, welches Kriegserlebnis ihm am
lebhaftesten in Erinnerung wäre, erwartete ich, von Verdun, von der Somme oder
von Flandern zu hören; denn er war in den schlimmsten Monaten an allen drei
Fronten gewesen. Aber statt dessen erzählte er mir Folgendes:
Nicht der lebhafteste,
aber der bleibendste meiner Eindrücke fing damit an, daß wir in einem kleinen
französischen Dorf weit hinter den Linien in Ruhe lagen. Wir hatten in einem scheußlichen
Abschnitt gelegen, wo das Artilleriefeuer extrem heftig gewesen war, und waren
weiter als sonst zurückgenommen worden, weil wir starke Verluste erlitten
hatten und wieder Kräfte sammeln mußten.
Es
war eine
herrliche Augustwoche, ein wunderbarer, biblischer Sommer, und das stieg uns zu
Kopf wie der schwere goldene Wein, den wir einmal in einem Keller in der
Champagne gefunden hatten. Wir waren entlaust worden; einige von uns waren
sogar an saubere Wäsche gekommen, die anderen kochten ihre Hemden gründlich
über kleinen Feuern aus; überall herrschte eine Atmosphäre von Sauberkeit –
deren Zauber nur ein schmutzverkrusteter Soldat kennt –, freundlich wie ein
Samstagabend in jenen weitentfernten Friedenstagen, da wir als Kinder in der
großen Wanne badeten und Mutter die frische Wäsche aus dem Schrank holte, die
nach Stärke, Sonntag und Kuchen roch.
Du
weißt ja, daß es kein Märchen ist, wenn ich sage, daß das Gefühl dieses zur
Neige gehenden Augustnachmittags mir süß und stark in die Glieder fuhr. Als
Soldat hat man ein ganz anderes Verhältnis zur Natur als die meisten Menschen.
All die tausend Verbote, die Hemmungen und Zwänge fallen vor dem harten, dem
schrecklichen Dasein am Rande des Todes ab; und in den Minuten und Stunden der
Unterbrechung, in den Tagen der Ruhe, steigert sich manchmal der Gedanke an das
Leben, die bloße Tatsache, noch dazusein, durchgekommen zu sein, zu schierer
Freude, sehen zu können, zu atmen und sich frei zu bewegen.
Ein
Feld in der Abendsonne, die blauen Schatten eines Waldes, das Rauschen einer
Pappel, das klare Strömen fließenden Wassers waren eine unbeschreibliche
Freude; aber tief drinnen, wie eine Peitsche, wie ein Stachel, lag der scharfe
Schmerz des Wissens, daß dies alles in ein paar Stunden, in ein paar Tagen vorbei
sein, wieder gegen die verdorrten Landschaften des Todes eingetauscht werden
mußte. Und dieses Gefühl, das so merkwürdig zusammengesetzt war aus Glück,
Schmerz, Melancholie, Trauer, Sehnsucht und Hoffnungslosigkeit, war die übliche
Erfahrung eines Soldaten in Ruhe. Nach dem Abendessen ging ich mit einigen
Kameraden ein kleines Stück aus dem Dorf. Wir redeten nicht viel; zum ersten
Mal seit Wochen waren wir völlig zufrieden und wärmten uns in den schrägen
Sonnenstrahlen, die uns voll ins Gesicht schienen. So kamen wir schließlich zu
einem kleinen, tristen Fabrikgebäude mitten in einem weiten eingezäunten
Grundstück, um das Wachposten aufgestellt waren. Der Hof war voller Gefangener,
die auf den Transport nach Deutschland warteten. Die Wachposten ließen uns ohne
Umstände ein, und wir konnten uns umsehen. Einige hundert Franzosen waren da
untergebracht. Sie saßen oder lagen herum, rauchten, redeten und dösten. Das
öffnete mir die Augen. Bis dahin hatte ich nur kurze, flüchtige Eindrücke –
vereinzelt, schemenhaft – von den Männern gehabt, die die feindlichen Gräben
hielten. Ein Helm vielleicht, der einen Augenblick über den Rand der Brustwehr
ragte; ein Arm, der etwas warf und wieder verschwand; ein Stück graublauen
Stoffs, eine Gestalt, die in die Luft sprang – fast abstrakte Dinge, die hinter
Gewehrfeuer
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