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Der letzte Grieche

Der letzte Grieche

Titel: Der letzte Grieche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aris Fioretos
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machten ihn zum Helden. Wir können mit Fug und Recht annehmen, wenn Lambrakis die Wahl gehabt hätte, wäre es ihm lieber gewesen, nicht zu sterben und kein Held zu werden.«
    Der Mann schaute sich um. Ein letzter Zug, Kunstpause, toter Däne. »Die griechische Geschichte kennt viele Helden. Heute Abend möchte ich über einen Typus sprechen, von dem niemand redet. Ich denke an den namenlosen, den übergangenen, den nie gepriesenen Helden – mit einem Wort: an den Gastarbeiter. Sie fragen sich vielleicht, welche Bedeutung eine Person hat, die ihr Heimatland verlässt, ohne es aufzugeben? Lassen Sie mich mit einem Zitat beginnen.« Er führte aus, vor hundertfünfzig Jahren habe der schwedische Romantiker P.D.A. Atterbom eine Reise in umgekehrter Richtung, nach Südeuropa, unternommen. »Wie immer ist das Verhältnis von Dichtung und Wahrheit bei diesem Poeten schwer zu bestimmen …« Der Redner lächelte still. »Gestatten Sie mir, die Szene zu skizzieren. An den duftenden Himmelsbergen versammeln sich die Heiligen. Man trinkt und entsinnt sich großer vergangener Tage. Außerhalb des Zirkels streunt jedoch ein Jüngling umher. Er lauscht, tritt aber nicht näher – ›keiner kennt seinen Namen und sein Begehr‹. Schließlich erhebt einer der Heiligen die Stimme. Wie sich zeigt, ist es der Ahnherr der schwedischen Literatur persönlich. ›Kündet nun endlich Meister Stiernhielm‹« (der Name wurde mit einem genüsslichen Lispeln ausgesprochen):
     
    »Ein Landsmann dieser Träumer ist, von Thules Bergen;
    Weit zog er durch die Welt zu Abenteuern.
    Ein Fremder daheim, ein Fremder fernab,
    Ein Fremder noch hier im Paradies.«
    Man merkte, dass der Vorleser mit dem Zitat zufrieden war, vielleicht aber noch mehr damit, nun die volle, verblüffte Aufmerksamkeit seiner Zuhörer zu genießen. Er rückte sein Manuskript zurecht. »Die meisten von Ihnen kennen Stiernhielms berühmten Protagonisten. Ja? Nein? Aha. Nicht. Jedenfalls hege ich den Verdacht, dass in diesem Zitat von ihm die Rede ist. Hier streunt er umher, eine erfundene Figur, zwischen realen Personen – in einem anderen Gedicht! Das nenne ich einen einheimischen Ausländer.« Erneut lächelte der Mann, diesmal jedoch etwas weniger schüchtern. Als er nach einer neuen Karte griff, entdeckte er, dass die verwirrten Mienen nicht weniger geworden waren. »Ah, verstehe, Sie fragen sich, was mit denen hier ist?« Er hielt den Stapel Karteikarten hoch. »Nichts Besonderes. Ich benutze sie nur, um nicht zu vergessen, dass jede Geschichte eine Konstruktion ist. Ereignisse sind nicht beliebig, stimmt’s? Aber sie können immer in einer anderen Reihenfolge erzählt werden. Die Aufgabe des Historikers besteht darin, die zu finden, die am meisten aussagt …«
    Während sich der Mann in methodologische Fragen vertiefte, machte Agneta sich Gedanken über ihn. Er schien nicht alt zu sein, vielleicht fünf oder sechs Jahre älter als sie selbst. Dennoch wirkten seine Gesichtszüge so ernst und so verspielt, dass sie, von der gelehrten Atmosphäre ermuntert, zu verstehen glaubte, dass wahres Wissen niemals tadelte oder vereinfachte. Erleichterung, Verblüffung, Scharfsinnigkeit, all das sprach aus dem Gesicht des Mannes. Und Möglichkeiten, sagenhafte Möglichkeiten. Bei diesem Gedanken begann der Muskel hinter ihren Rippen sich seltsam zu verhalten, als wechselten gerade wichtige Dinge den Platz. Zum ersten Mal, seit sie sich selbst kannte, fuhr ihr ein Schauer über den Rücken, und danach eine Ahnung, die als Gänsehaut ausschlug. Die Ahnung bestand aus zwei Teilen: (1) Es war möglich, sich auf einen Stuhl zu stellen und mit der absoluten Sicherheit nach hinten fallen zu lassen, dass einen jemand auffing; (2) Ein Leben ohne dieses irre Fallen und ohne diese wirre Gewissheit konnte niemals ein vollständiges Leben sein. Fragen Sie uns nicht, wie sie dies erkannte. Es war einfach so. Vielleicht kann Heldenmut auf mehrere Schultern verteilt werden.
    Als hätte der Vortragende Agnetas Gedanken gelesen, erklärte er nun: »Ein Held muss bereit sein, alles zu verlieren, was er besitzt. Tatsächlich macht ihn erst diese Bereitschaft zum Helden. Fortan wird der Abschied seine Disziplin werden – und in diesem Punkt lehrt er die Historiker etwas Wesentliches. Das Werk, das Herr Tsipouris mich aus der Perspektive einer jüngeren Generation vorzustellen gebeten hat« – kurzes Nicken in Richtung des Gastgebers in der ersten Reihe – »und dessen zwölfter Band in wenigen

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