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Der letzte Grieche

Der letzte Grieche

Titel: Der letzte Grieche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aris Fioretos
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Jannis mit Jannoula zu Hause blieb, stieg Agneta mit einem abenteuerlichen Herzen unter dem Popelinmantel in den Bus. Es kam darauf an, nicht zu viel zu denken, redete sie sich ein, nur etwas zu wagen. Als sie eine Viertelstunde später ausstieg, las sie die Adresse auf dem Handzettel nach und spazierte durch den finsteren Park am Dom. Kies knirschte, Regen blieb in den Baumwipfeln hängen oder prasselte sanft auf die Erde herab. Auf einmal näherte sich ihr eine klappernde Fahrradlampe. Sie wich aus, eine Pfütze wurde in der Mitte gespalten – und dann sah sie nur noch das Rücklicht, das mal hierhin, mal dorthin schwang, ehe es von der Dunkelheit verschluckt wurde. Obwohl es bereits Herbst geworden war, hing etwas Verheißungsvolles in der Luft. Während sie dachte, dass etwas enden musste, damit etwas anderes beginnen konnte, fühlte sie sich für einen Moment namenlos. Als sie das große Gebäude betrat, wusste sie zunächst nicht, wohin. Am Ende half ihr eine Kellnerin. Das Café, in dem die Frau arbeitete, war riesig, dampfte von nikotingefärbter Feuchtigkeit und hieß Athenäum. Sachlich rollte die Bedienung Zeitungen zusammen und zeigte auf eine Tür. Die Drucksachen kamen übrigens aus dem Ausland und wurden um Holzstücke gewickelt wie disziplinierte Regenschirme. Bevor Agneta die Tür aufschob, schüttelte sie den Regen ab. Die Tropfen fielen von ihr wie fette Perlen. Wenige Minuten später saß sie in einem Raum mit riesigen Bogenfenstern in der hintersten Reihe. Sie presste die Füße zusammen, ihre Nylonstrümpfe waren feucht. Es war das erste Mal, dass sie eine Veranstaltung dieser Art besuchte, und sie hatte nur eine vage Ahnung, was es hieß, eine Studentin zu sein. An der Tür tropften Regenschirme in verschiedenen Farben. Jemand hatte einen bolivianischen Poncho dazugehängt. Ein kleiner Mann stellte klebrige Schüsseln auf die Tische, danach verteilte er etwas willkürlich Gabeln und Servietten. Er begrüßte jeden Besucher mit einem sanften Händedruck. Als er zu Agneta kam, hellte seine Miene sich auf und er stellte sich als Charalambos Tsipouris vor, Ortsvorsitzender im Schwedischen Komitee für die Demokratie Griechenlands. Er hatte einen undefinierbaren Gesichtsausdruck, als stünde er ständig kurz davor, etwas Wichtiges zu sagen, was er dann jedoch stets wieder vergaß. Sein Atem roch wie bräunlich verfärbte Äpfel. Fünf Minuten später lächelte er siebzehn Zuhörer an, die darauf warteten zu trocknen. Ein Student, der auf der Toilette gewesen war, schob sich wieder in den Raum. Er nahm das Stirnband ab, strich seine Haare hinter die Ohren und setzte es erneut auf. Dann fiel sein Blick auf das Gebäck und er grinste. »Mehr kommen wohl nicht.« Tsipouris sprach ein klares, erstaunlich gutes Schwedisch. Er wandte sich dem Vortragenden des Abends zu. Als er ihn vorstellte, kaute er auf seinem Schnäuzer.
    Währenddessen schweifte der Blick des Redners von Zuhörer zu Zuhörer. Als er zu Agneta kam, war es, als schlösse sich ein Kreis aus feiner Elektrizität. Der Mann senkte den Blick. Seine Haare waren frisch geschnitten, die Wimpern sehr lang. Darauf wartend, dass sich der Vorsitzende setzte, nestelte er an einer Prince Denmark herum. Nur Agneta schien zu merken, dass er verlegen war. Sie hätte sich schon sehr irren müssen, wenn sie nicht der Grund für diese Schüchternheit gewesen wäre. Nach zwei Zügen ließ der Redner die Zigarette im Aschenbecher ruhen. Als der Vorsitzende hüstelte, rückte er die Karteikarten vor sich gerade und sagte: »Guten Abend. Es freut mich, vor einem so handverlesenen Publikum sprechen zu dürfen.« Agneta, die ahnte, dass sich seine Worte an sie richteten, streckte sich. »In einer Zeit, in der die Demokratie bedroht wird, ist auch die Vergangenheit bedroht. Wem gehört die Geschichte? Wer hat das Recht, sie zu schreiben? Glaubt man den Obristen, sind sie Helden, die das Vaterland aus den Händen der Kommunisten gerettet haben.«
    Zugegeben, die Einleitung war tastend. Der Vortragende trank einen Schluck Wasser. Es kam aus der Leitung in der Toilette, und Agneta sollte später erfahren, dass es nach lauwarmem Rost schmeckte. »Aber«, fuhr er fort, »lehrt uns die Vergangenheit nicht, dass keiner absichtlich zum Helden wird? Als Lambrakis in England gegen Atomwaffen protestierte oder allein mit einem Transparent von Marathon nach Athen marschierte, tat er das nicht, um gefeiert zu werden. Wichtig war die Sache, nicht die Person. Die Umstände

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