Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der letzte Grieche

Der letzte Grieche

Titel: Der letzte Grieche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aris Fioretos
Vom Netzwerk:
zu Vorlesungen ging, er nahm an, dass sie sich irgendwo aufhielt, wo sie offenbar auf der Suche war, um sich selbst zu finden. Er nahm an, dass sie die neue Liebe erprobte, die anscheinend so anders war, dass sie sich mit nichts in der alten Welt vergleichen ließ. Aber als Berit anrief, begriff er, dass Agneta zumindest zeitweise bei ihrer Freundin in Tollarp wohnte. Wenn sie die Tochter ablieferte oder abholte, war sie stets auf zerbrechliche Art freundlich. Obwohl sie den Tränen nahe war, wollte sie nie über etwas anderes als Alltagsfragen reden. Drohte das Gespräch eine andere Wendung zu nehmen, unterbrach sie ihn: »Wir müssen warten. Bitte, stell mir keine Fragen. Wir müssen … Dann werden wir weitersehen.« In dem darauffolgenden Schweigen lagen sowohl eine Drohung als auch ein Flehen. Was immer er tat, es gab etwas, an das er nicht herankam, und er bezweifelte, dass es jemals anders sein würde. Verletzlichkeit konnte mächtiger sein als ein Panzer. Warum, dachte er, wenn er wieder allein war, warum helfe ich ihr, wenn es stets auf meine Kosten geschieht?
    »Schau mal«, sagte der Vorarbeiter und stieg auf die Rampe zur großen Presse hinauf. Der stahlglänzende Zylinder glich einer Rolle Toilettenpapier für Riesen. Ringsum arbeiteten die kleineren Druckerpressen schnell und koordiniert. Ihr regelmäßiges, gleichsam vollendetes Hämmern ließ in Jannis kurzzeitig Frieden einkehren. Engberg befeuchtete zwei Finger, dann hielt er zur Neonröhre gewandt einen Probedruck hoch. Das Licht löste die Buchstaben auf, weshalb er zu einem Tisch ging, sich am Kopf kratzte und sagte: »Britt-Marie behauptet, dass sie sich bei den Akzenten unsicher ist. Ich kann den Auftraggeber nicht erreichen, und wir müssen heute damit durch sein, sonst werden die Weihnachtsprospekte nicht rechtzeitig fertig. Könntest du … Ja, du weißt schon?«
    In Erwartung einer Antwort zog er einen Fuß aus dem Holzschuh. »Das wird eine Weile dauern«, war alles, was Jannis sagte, als er den Probedruck gemustert hatte. »Aha. Ich hab mir gleich gedacht, dass es nicht so leicht sein würde.« Der Vorarbeiter bat ihn, sorgfältig zu arbeiten. »Wir können es uns nicht leisten, Makulatur zu drucken. Du kannst dich zu Britt-Marie setzen.«
    Als Jannis das Büro betrat, war Fräulein Sävlunds Gesicht streng wie ein Geometriekasten. Gegenwärtig ging sie die Texte der Weihnachtskataloge durch und schien wie üblich Angst zu haben, etwas falsch zu machen. Während der Vorarbeiter die übrigen Probedrucke holte, verteilte Jannis sein Gewicht auf dem Stuhl. Er saß unbequem. Er verlagerte das Gewicht. Als es nicht besser wurde, dachte er, dass es Dinge gab, die man vorhersehen, und Dinge, die man nicht planen konnte. Als Engberg ihm alle Probedrucke übergeben hatte, steckte er sich ein neues Streichholz in den Mund und begann zu lesen.
    Es war nicht das erste Mal, dass er ein Exemplar der Enzyklopädie vor Augen hatte. Doch nun empfand er eine Ehrfurcht, die um vieles größer war als der Respekt, der ihn ein Jahr zuvor in Kezdoglous Wohnzimmer erfüllt hatte. Immerhin hatte man ihn diesmal gebeten, in den Text einzugreifen und wenn nötig zu ändern, zu streichen, zu verschieben. Jannis war kein Mensch, der so etwas gern tat. Als er seine Schürze auszog, um besser zu sitzen, hatte es im Gegenteil den Anschein, als wollte er gleich auch noch seine Schuhe ausziehen, bevor er die Reise in die Schicksale seiner Landsleute antrat. Aber er bewegte sich nicht wie zur Probe, unsicher, als würde er stören, sondern wie in einem Kinderzimmer oder einer Kirche. Er empfand sehr intensiv, dass er sich in einer Ordnung befand, die zu stören ihm nicht zukam. Unter diesen Buchstaben, die sowohl jung als auch uralt und von diakritischen Zeichen umgeben waren, die, wie er lächelnd dachte, einer ganz bestimmten Insektenart ähnelten, in ihrer Mitte fühlte er sich zum ersten Mal seit vielen dienstaglosen Wochen wieder zu Hause. Binnen kürzester Zeit geschah denn auch Erstaunliches: Während er seine verstreuten Landsleute begleitete, einige von ihnen waren noch Kinder, schien ihm, als blieben sie stehen, drehten sich um und begännen, ihn zu lesen. In diesem Augenblick kam Jannis ein Gedanke, der ihn nie wieder loslassen sollte: Vererbtes mochte wichtig sein, aber wesentlich wichtiger war, wie man seine Erinnerungen mit anderen teilte.
    Da war das Mädchen, das im Winter 1949 ohne Eltern und Gepäck nach Timisoara kam, wo ihm von Nonnen geholfen wurde,

Weitere Kostenlose Bücher