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Der letzte Grieche

Der letzte Grieche

Titel: Der letzte Grieche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aris Fioretos
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bis es fünfzehn Jahre später verunglückte, als es mit Bibel und banitza in den Händen einen der neuen Boulevards überquerte. Da gab es den Wirtschaftsprüfer, der an Bord eines Öltankers aus Patras floh und starb, als das marode Schiff vor Alexandria sank. Er war selbst schuld gewesen, denn trotz wiederholter Aufforderungen hatte er den breiten Gürtel unter seinem Hemd nicht ablegen wollen. Die Besatzungsmitglieder sahen ihn wie einen Feldstein untergehen, als sie zu den Rettungsbooten schwammen. Erst hinterher begriffen sie, dass der Mann Gold um seine Taille getragen haben musste. Da gab es jenen Karten spielenden Gastarbeiter in Frankfurt-Bornheim, der Frau und drei Kinder mit einer Plastiktüte im Schlaf erstickte und sich anschließend durch das Gaumensegel erschoss. Als die Polizei die Wohnungstür aufbrach, fanden die Beamten das Kündigungsschreiben ordentlich auf dem Küchentisch neben seiner Armbanduhr, einer Halskette mit Kreuz und einem halbvollen Bierglas. Niemand würde ihn jemals verstehen. Da gab es den Studenten an der Technischen Hochschule von Athen, der gerade ein obskures mathematisches Problem gelöst hatte, als er wegen innerer Blutungen im Zug von Brüssel nach Namur starb. Da war die Lehrerin in Cholmogory, die von einem riesigen Eiszapfen getötet wurde, der von einem der Kräne im Hafen herabfiel und ihren Schädel spaltete. »Was zum Teufel hatte sie da zu suchen?«, fragte ein nicht näher identifizierter Igor P. Da war der Seidenraupenzüchter, der mit seiner Schwester aus einem Dorf am Schwarzen Meer geflohen war und ein glückliches, aber kompliziertes Leben als Restaurantbesitzer in Detroit führte, ehe er an einem Blutgerinnsel im Gehirn starb und letzte unverständliche Worte in Form von Speichelblasen über seine Lippen kamen. Da gab es etwa dreißig lange und kurze und ereignislose und erschütternde und bittere und traurige und schweigsame Leben von Voll-, Halb- und Viertelgriechen, die nur eins gemeinsam hatten: dass sie im Ausland verbracht wurden. Und, nun ja, dass die Personen Voll-, Halb- etc. Landsleute waren.
    Und dann gab es da einen 20 x 25 x 12 Zentimeter großen Kasten aus unbehandeltem Kiefernholz. Als Bernt Engberg ihn vor Jannis abstellte, erkannte dieser den Kasten aus Bromölla wieder. Der Vorarbeiter strich mit den Fingern über den Inhalt. »Ich glaube nicht, dass der hier dazugehört, aber könntest du sicherheitshalber einen Blick darauf werfen?« Als er mit den Probedrucken verschwunden war, sagte Jannis nur: »Tss …« Sein Bauch rumorte, doch statt etwas zu essen, öffnete er den Kasten und ging die ersten Karteikarten durch.
    Als er mit der Lektüre begann, war es kurz nach eins. Wir nehmen an, dass ihn der Text sowohl erstaunte als auch verwirrte. Jedenfalls kann es nicht lange gedauert haben, bis er erkannte, dass es sich um ein Supplement zur Enzyklopädie handelte. Er versäumte zwar das Mittagessen, spürte seinen Hunger aber wahrscheinlich nicht mehr. Eine der Neonröhren an der Decke produzierte ein knisterndes Geräusch, das wie ein Lötkolben klang. Auch das fiel ihm nicht auf. In regelmäßigen Abständen öffnete der Vorarbeiter die Tür, um sich zu erkundigen, wie er mit seiner Arbeit vorankam. Jedesmal brummte der Grieche nur: »Wahnsinn, Wahnsinn.«
    Gegen halb drei gelangte Jannis zu einigen kritischen Passagen, so dass er bedächtig, unter Umständen sogar quälend langsam las, wobei sein Finger Wort für Wort den Zeilen folgte. Britt-Marie Sävlund fand, dass es aussah, als hätte er Angst, das Gleichgewicht zu verlieren, sagte aber nichts, als der Vorarbeiter wieder einmal den Kopf zur Tür hereinsteckte, ohne eine Antwort zu bekommen. Jannis erinnerte sich an seinen letzten Besuch bei den Freunden und daran, dass Kostas mit einer Hand auf der Kiste dagestanden hatte, während er selbst mit glasigen Augen im Manuskript der Gehilfinnen Clios geblättert hatte. Mit jeder neuen Seite wurde das Wasser tiefer und am Ende verlor er den Halt unter den Füßen. Er stapfte in Geheimnissen herum, die eigentlich jedes Menschen Privatsache bleiben sollten. Er fiel durch Jahrzehnte und Träume. Er tastete blind und bekam Gespenster zu fassen.
    Mittlerweile verstand Jannis, warum man einen Artikel über jene Frau schrieb, die vor sehr langer Zeit in einer Wolke aus Kunsteis in einem Zirkus aufgetreten war. Er konnte verstehen, dass sie ein Kind mit einem Schlittschuh laufenden Seraphen oder auch einem früheren Schwertschlucker bekommen hatte,

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