Der letzte Karpatenwolf
Und die sollen wir laufen …?
Sie zogen weiter durch die Berge.
Die Straßen waren von den Russen besetzt. Der Weg nach Westen war versperrt … die neue sowjetische Front stand bereits hinter den Ölfeldern von Ploesti und an der ungarischen Grenze. Zwischen der deutschen Front und den vier einsamen Männern in den Karpaten lagen über zweihundert Kilometer.
Norden, Osten und Süden aber blieben ihnen versperrt.
Der Weg in diese Richtung kannte nur ein Ziel: Sibirien!
»Es scheint so, als müßten wir rumänische Hirten werden und hierbleiben«, sagte eines Tages Willi Kleinhans. »Oder will einer von euch hinter den Ural?«
»Einmal muß doch der Mist zu Ende sein.« Hans Bornemann hatte seine Stiefel ausgezogen und badete die Füße in einem schmalen Bergwasser. »Und wenn der Krieg vorbei ist, können wir doch gehen, wohin wir wollen! Oder nicht?«
Eine Woche nach der Begegnung mit dem Mädchen Sonja Patrascu und dem alten Arzt Georghe Brinse lagen sie wieder am Waldrand und sahen auf eine Straße hinab, die von der Stadt Bacau nach Tasca führte.
Es war jenes Stadium der Dämmerung, in der der Tag noch nicht gestorben, aber die Nacht auch noch nicht geboren ist. Über die Straße war eine lange Kolonne gezogen … sowjetische Panzer, Raupenschlepper, Troßlastwagen, leichte Artillerie, eine Batterie Stalinorgeln, Raketengeschütze auf Selbstfahrlafetten. Neue Lastwagen amerikanischen Musters waren vorbeigedonnert – in ihnen saß russische Infanterie und sang. An jedem Wagen wehte eine rote Fahne … die Kühler waren mit Blumen bekränzt … Im Siegestaumel fuhren sie durch das eroberte Land.
Mit brennenden Augen hatten die vier deutschen Soldaten zugesehen. Jetzt war die Straße leer, nur die von den Wagen abgefallenen Blüten lagen welkend im Staub.
»Ich gehe in Gefangenschaft«, sagte der Haindl Anton. »Oder glaubt ihr's wirklich, daß mir durchkumma …?«
»Wir müssen den Krieg überleben – das ist alles! Wie und wo – das ist doch jetzt egal!«
»Aber in einem Gefangenenlager bekommt man wenigstens ordentlich zu fressen! Man hat ein Bett, ein Dach überm Kopf, man hat einen Arzt, wenn man ihn braucht –« Bornemann kaute an einer Wurzel. Die Fasern knackten zwischen seinen Zähnen. »Man hat Ruhe … man braucht nicht jede Minute wie ein Tier nach allen Seiten zu sichern … man hat –«
»… weiße Bettwäsche, einen Diener, der den Kaffee ans Bett bringt, und einen anderen Diener, der den Pißpott ausschüttet!« Willi Kleinhans hieb mit der Faust auf den Boden. »Seid ihr denn alle Idioten?! Was glaubt ihr, was der Iwan mit uns macht, wenn er uns erwischt?!«
»Er hängt uns auf«, sagte Michael Peters leise. Bornemann fuhr herum.
»Unser Benjamin! Unser Küken mit den Eierschalen am Hintern! Was weißt denn du davon? – Ruhe haben wir endlich. Und wenn sie mich in ein Erdloch stecken … ich weiß wenigstens: Jetzt ist die Jagd vorbei!«
Über die Straße lief eine Gestalt. Sie lief gebückt, in Sprüngen, sich hinwerfend, wieder aufspringend, über ein Feld jagend, dem Wald zu, in dem die vier Deutschen lagen.
Kleinhans und Peters entsicherten die Gewehre. Haindl griff zur Pistole.
»Nur einer! Aber warum läuft er so?«
Sie warteten ab, bis die rennende Gestalt so nahe an sie herangekommen war, daß sie von der Straße aus gegen den schwarzen Waldhintergrund nicht mehr sichtbar war. Dann sprangen sie auf und hielten die Waffen dem Rennenden entgegen.
»Stoj!« brüllte Kleinhans auf russisch.
Die Gestalt blieb sofort stehen. Sie konnte nicht erkennen, woher der Befehl gekommen war … sie sah nichts … aber sie warf die Arme hoch, ergeben und zitternd … dann sank sie in die Knie, noch immer die Arme hochstreckend, ein Bild völliger Wehrlosigkeit und stummen Flehens um das Leben.
»Der ist ja auch auf der Flucht«, flüsterte Bornemann.
»Germanskij?« schrie Kleinhans.
»Njet! Rumüniskija …«, kam die Antwort. Eine helle Stimme, ängstlich und dem Weinen nahe.
»Scho wieder a Weib!« sagte Haindl laut.
»Eine Rumänin!« Kleinhans ließ das Gewehr sinken. Auch die Gestalt ließ die hocherhobenen Arme herabfallen und erhob sich aus der knienden Stellung.
Langsam kam sie näher. »Sie können sprächen deitsch mit mir!« sagte sie. »Ich bin Vera Mocanu aus Bacau.«
»Wenn Sie uns verraten, werden wir …«
»Värraten?« Vera Mocanu war so nahe gekommen, daß man sie erkennen konnte. Sie trug eine Art Uniform, erdbraun, Stiefelhosen, Stiefel und auf dem
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