Der letzte Massai
aufgemacht hatte, in dem der
Große Laibon
im Sterben lag.
Als er Mbatianis Dorf fand, musste er feststellen, dass er nicht der Einzige war, der den
Großen Laibon
sehen wollte, bevor es zu spät war. Es gab viele Besucher in Mbatianis
Enkang,
die es wie Parsaloi dorthin gezogen hatte, aber dies waren angesehene Leute – Älteste und Anführer der verschiedenen Kriegergruppen der Massai. Und auch Vertreter anderer Stämme, die gekommen waren, um ihm Respekt zu zollen.
Niemand schenkte ihm große Beachtung, als er sich in der Nähe der Hütte des
Großen Laibon
herumtrieb und auf eine Gelegenheit wartete, hineinzuschlüpfen, oder als er sich an den Kochfeuern herumdrückte und sich mit Essensabfällen zufriedengab, die man ihm anbot.
Hätte ihn jemand gefragt, warum er dort war oder warum er den
Großen Laibon
sehen wollte, hätte er darauf keine Antwort gewusst. Ein starker Drang hatte ihn dazu getrieben, sein Leben bei der Durchquerung des großen Tals zu riskieren, aber es war eine Entscheidung des Herzens gewesen, nicht des Verstands. Doch als er im Dorf eingetroffen war, musste er feststellen, dass es nicht so leicht war, sich Zutritt zur Hütte des großen Mannes zu verschaffen. Die Ältesten bewachten den Eingang und musterten jeden eingehend, der um Einlass bat.
Am sechsten Tag versammelten sich alle Massai außerhalb der
Boma,
wo sie sich zu einem langsamen, rhyhthmischen Lied zu wiegen begannen, angestimmt von den Frauen und begleitet von den tieferen Männerstimmen. Das war Parsalois erste echte Gelegenheit, um Mbatianis Hütte zu betreten, doch er zögerte vor dem Kalbfell, das den Eingang bedeckte. Er fragte sich, ob er irgendein strenges Tabu brechen würde, wenn er uneingeladen in die Hütte des
Großen Laibon
trat. Nach einem letzten verstohlenen Blick nach allen Seiten, um sicherzustellen, dass ihn niemand sah, hob er das Fell an und schlüpfte in die Hütte.
Als die Abdeckung hinter ihm herabfiel, war er in Dunkelheit gehüllt. Er atmete die vertraute, dumpfe, rauchige Luft ein und spürte einen Druck auf seiner nackten Haut, ganz so, als wäre er in ein Spinnennetz gelaufen. Er strich sich mit der Hand über den Arm, doch da war nichts.
Seine Augen gewöhnten sich langsam an die Finsternis, und er konnte die Überreste eines Kochfeuers erkennen. Das Tageslicht fand Wege durch die winzigen Risse der Kuhdungwände und fiel in schmalen, silbrigen Streifen auf den festgestampften Erdboden.
Er blickte sich suchend im Raum um, und plötzlich legte sich eine kalte Hand um sein Herz, als er den Augen des alten Mannes begegnete. Der
Große Laibon
starrte ihn von seiner Lagerstatt aus an. Aus den Geschichten der Älteren hatte Parsaloi geschlossen, dass Mbatiani beinahe blind war, aber diese Augen leuchteten im schummrigen Schein des Feuers und schienen ihn zu durchdringen.
»Du bist also gekommen«, sagte der
Große Laibon
mit gepresster Stimme, die von weit her zu kommen schien.
Parsaloi trat einen Schritt auf ihn zu. »Ja, mein … es tut mir leid, ich weiß nicht, wie ich dich anreden soll.«
»Wie du willst, mein Junge. Es ist nicht von Bedeutung.« Der
Große Laibon
wehrte seine Frage mit einer überraschend ausdrucksvollen Geste ab. Seine Hand flatterte im Feuerschein wie ein Schmetterling. »Du bist gekommen, aber weißt du auch, warum du gekommen bist?«
»Ich … ich bin mir nicht sicher, mein Vater.«
Vielleicht hatte er ein wenig an dem gewaltigen Wissen des
Großen Laibon
teilhaben wollen, bevor dieser es mit in sein Grab nehmen würde. Aber da er Angst hatte, dass die Ältesten solche Gedanken als albern abtun würden, behielt er sie für sich.
»Dann werde ich es dir sagen«, fuhr Mbatiani fort. »Du bist gekommen, weil du Angst hast. Nein, schäme dich nicht. Nur ein Dummkopf ist ohne Furcht. Er hat nicht den nötigen Verstand, um zu erkennen, was ihn bedroht. Und du hast recht, wenn du dich fürchtest. Ein Krieg wird kommen. Ein Krieg zwischen Brüdern. Ebenso wie ein früherer Krieg deinen Stamm, die Laikipiak, vernichtet hat, wird ein anderer viele weitere Opfer fordern.
Die Massai haben alles erobert, aber wir könnten alles verlieren, wenn wir uns nicht wieder vereinen. Dazu benötigen wir Anführer. Starke Anführer, die die Massai zusammenführen.
Eines Tages wirst du ein bedeutender Anführer sein, mein Sohn. Du wirst der
Olaiguenani
des Altersranges sein, den man die Il Tuati nennen wird. Auch wenn es nicht leicht sein wird, so musst du doch weiterhin deine
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