Der letzte Massai
Vielleicht würde ihm dieser neue Junge in den Tagen, die er in ihrem Dorf verbrachte, ein Gefährte sein, wenn nicht sogar ein Freund. Jemand, dem Parsaloi seine Gedanken anvertrauen konnte. Der ihn auf die Jagd begleiten würde. Aber er zögerte, die schreckliche Wahrheit preiszugeben, aus Angst, damit alles zu gefährden.
»Wieso sagst du, dass du anders bist?«, hakte Nkapilil nach. »Ich weiß, dass du die dünnsten Beine hast, die ich jemals gesehen habe, und einen entsprechenden Pimmel, aber was gibt es denn da sonst noch zu wissen?«
»Ich bin ein Laikipiak«, erwiderte Parsaloi und reckte kämpferisch das Kinn vor.
»Hmm«, entgegnete Nkapilil. »Ist das alles?«
Parsaloi, der mit der üblichen, kaum verhohlenen Verachtung und dem unausweichlichen Kampf gerechnet hatte, ließ die gestrafften Schultern sinken und murmelte: »Ja, das ist alles.«
»Nun, das wusste ich bereits. Aber das ist unwichtig, viel wichtiger ist dies.« Er zog Parsaloi näher zu sich heran und sagte in verschwörerischem Ton: »Möchtest du wissen, wie du den Respekt der anderen Jungen gewinnen kannst?«
Für einen flüchtigen Moment war Parsaloi versucht, trotzig zu erwidern, dass er sich nicht darum scherte, was die anderen dachten. Und im nächsten Augenblick hätte er beinahe über Nkapilils Zuversicht gelacht. Hatte er denn nicht den Hass in den Augen der Jungen gesehen? Doch der Neuankömmling hatte etwas an sich, das ihn von den anderen unterschied. Parsaloi entschied sich, ihm zu vertrauen, und nickte zustimmend.
»Dann sieht der Plan folgendermaßen aus: Du musst niemandem erzählen, dass ich von einem Löwen auf einem Baum festgehalten wurde.«
Nkapilil wartete auf Parsalois Einverständnis. Parsaloi hatte nicht die Absicht, seinen Peinigern irgendetwas zu erzählen, daher nickte er.
»Gut. Du musst Folgendes tun: Zunächst einmal wirst du nicht mehr weglaufen, wenn dich die Jungen verfolgen.«
»Nicht weglaufen? Ich bin doch nicht verrückt. Sie werden mich verprügeln.«
»Möglicherweise. Aber das ist wie bei Schakalen und Dachsen. Wenn der Dachs aufhört davonzulaufen und Kampfbereitschaft zeigt, dann hat der Schakal plötzlich bessere Dinge zu tun.«
Parsaloi dachte über die Weisheit dieser Worte nach und nickte wieder, wenn auch zögernd.
»Und wenn sie gegen dich kämpfen wollen, dann setze so ein Gesicht auf wie eben, als du mir gesagt hast, dass du anders bist. Dann wirkst du gleich doppelt so groß.«
Parsaloi versuchte erst gar nicht, seine Skepsis zu verbergen.
»Und wenn das versagt und sie dich dennoch verprügeln wollen«, endete Nkapilil, »dann müssen sie von jetzt an gegen uns beide kämpfen.«
Kapitel 2
M batiani Ole Supeet wusste, dass er im Sterben lag. Er hatte in seinen achtzig Jahren als
Laibon,
wie die Massai ihre Heiler nannten, viele sterben sehen. Diese Erkenntnis erschütterte ihn nicht. Er wusste, dass seine Zeit gekommen war.
Er lag in seiner Hütte. Das Kochfeuer war die einzige Lichtquelle in dem abgedunkelten Raum. Seine erste Frau, die alt und langsam war, kümmerte sich um ihn. Sie war die Einzige, die er ertrug. Seine jüngeren Frauen waren zu eifrig darauf bedacht, ihm zu helfen, und vermochten nicht den Schmerz nachzuempfinden, den ein alter Körper schon dann empfand, wenn er nur auf seiner Lagerstatt ruhte.
Mbatiani wusste, dass es seiner alten Frau schwerfiel, ihre Knie zu beugen, und sie benutzte ihren Stock, um sich wieder aufzurappeln, wenn sie ihm sein Gebräu aus warmem Blut und Milch gefüttert hatte. Er hätte sie nun, da die Tage und Nächte vorüberflogen und er sich fürchtete, gern gebeten, sich neben ihn zu legen, damit er ihr noch einmal von früheren Zeiten erzählen konnte, als er einer der ruhmreichen
Moran
gewesen war, dieser tapferen, stattlichen, starken und furchterregenden Krieger. Vielleicht würde er ihr noch einmal seine Gunst schenken, denn war er nicht immer noch ein Mann?
Doch als sie im Eingang stand, ihre welke Hand auf der Abdeckung aus Kalbfell, sagte er lediglich: »Wohin gehst du, alte Mutter?«
Sein Atem kam in kleinen Stößen wie bei einer Gazelle, die sich bei ihrer hastigen Flucht vor einer Gefahr verausgabt hat. Das verlieh seiner Stimme einen harten Klang, doch der Gebrauch ihres Kosenamens bedeutete ihr, dass es nicht so beabsichtigt war.
»Ist dein Bauch noch nicht gesättigt, mein Ehemann?«, erkundigte sich die alte Frau seufzend, ein Spiel mit Worten, denn auch sie erinnerte sich an ihre gemeinsamen Nächte.
Das
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