Der letzte Schattenschnitzer
geschaffen ist, dein Diener zu sein. Diese Erkenntnis stehe, sobald du dich ins Dunkel wagst, all deinem Handeln voran. Denn sie ist die Quintessenz der alten Lehre und Ursprung aller Wunder, zu denen der Schatten fähig ist. Zugleich birgt sie aber auch eine Gefahr. Dieser zu entgehen bedarfst du des Schutzes gewisser Symbole. Darum studiere, bevor du einen Schatten zu beherrschen versuchst, die magischen Zeichen und schütze deinen Geist und deinen Leib vor dem, was kommt.
Jeder Schatten ist in der Lage, seinem Herrn auf mannigfaltige Art zu schaden.
Der Irrsinn, das Sprechen in Zungen und das Orakeln geben Zeugnis von solchen Taten. Wenn es nämlich dem Schatten gelingt, zu Teilen in seinen Herrn zu dringen, so verändert er dessen Gemüt und Gebaren. So ist der Schatten nicht bloß Ursprung böser Träume, sondern auch des Wahnsinns, der mitunter von den Menschen Besitz ergreift. Nie dringt dabei der Schatten zur Gänze in seinen Herrn ein, sondern sickert nur langsam in ihn hinein, vergiftet ihn mit seinem Dunkel, so dass der Mensch sich plötzlich an Dinge erinnert, die den Tiefen des Limbus entstammen und ihm niemals selbst widerfahren sind. Auf diese Weise beherrscht er plötzlich ihm zuvor unbekannte Sprachen, oder aber es sprechen die Stimmen der Toten aus ihm. Ist er in der Lage, dieses Phänomen zu steuern, eröffnet es dem Schattenkundigen große Möglichkeiten. Sonst aber verfällt er dem Wahnsinn, welcher der Schattenvergiftung erwächst.
Dieser Wahnsinn aber ist nur die mildere Form des Leids, das die freien Schatten mit sich bringen. Schlimmer als er ist eines Schattens Fähigkeit, seinen Herrn zu verraten. Wenn er dessen Vertrauen erschleicht, ihn kennen und verstehen lernt und treu ist bis zu dem Moment, da er seine eigenen Wege zu gehen beschließt.
Und diese unheilige Form des Verrates ist das grausamste Leid, das die Schatten über den Menschen bringen …
15.
Verbleibe denn, du fluchbeladner Schatten!
Wohl kenn ich dich, wenn du auch ganz beschmutzt bist.
Dante Alighieri
(1265-1321)
In Die Göttliche Komödie (7. Gesang)
K aum dass der Wächter diese Welt für immer verließ, verblassten auch die Krähen und Hunde draußen vor der Hütte, und alle Magie fiel von der Zuflucht ab.
Schüsse und Schreie drangen deutlich von draußen herein. Sie wurden lauter, kamen näher. Die Schutzwälle aus Schatten waren gefallen, und ohne den Schutz des Wächters blieb den Bewohnern Ambrìs nichts übrig, als sich zu ergeben oder im Ansturm der Gegner einen sinnlosen Tod zu sterben.
Kaum hatten die Söldner des Rates begriffen, dass die letzte Verteidigungslinie gefallen war, drängten sie mit neuer Macht weiter. De Maester setzte sich wieder an ihre Spitze und stürmte mit zwei seiner besten Männer voran.
Zur gleichen Zeit flossen die drei Schatten wieder aus den Schlössern des Tores, hinter dem sich eine massive, kalte Finsternis eröffnete. Maria baute sich direkt vor dem Tor auf, ihren ausdruckslosen schwarzen Blick starr in die Untiefen der Dunkelheit dahinter gerichtet.
Erschöpft vom Streit mit seinem Herrn glitt Jonas’ Schatten kraftlos zu Boden und gewährte dem Jungen, in seinen Körper zurückzukehren. Benommen richtete Jonas sich auf und schaute ungläubig auf seinen Schatten, der ihn hintergangen, verraten und so das Schicksal der Welt besiegelt hatte. Dann aber besann er sich auf Maria und eilte zu ihr hinüber.
Doch es war zu spät. Das Eidolon musste nicht mehr fürchten, den Körper des Mädchens zu verlieren, denn mit dem Öffnen des Tores war er überflüssig geworden. Es brauchte ihn nicht mehr. So wie kein Schatten jemals wieder einen Körper brauchen würde. Wenn ihnen fortan der Sinn nach einem stand, würden sie ihn sich nehmen, wann immer sie wollten. Denn nun begann die Herrschaft der Schatten. Des Menschseins überdrüssig geworden, verließ das Eidolon den Leib des Kindes.
Jonas erreichte das kleine Mädchen gerade noch rechtzeitig, um ihren zusammensackenden Körper aufzufangen. Er wusste sofort, dass sie tot war. Er sah gerade noch den letzten Rest Schwarz aus ihrem Blick entschwinden und einem hellen Grün weichen. Ihre eigentliche Augenfarbe war nun, vier Jahre nach ihrer Geburt, zum ersten Mal zu sehen. Als Jonas Mandelbrodt dieses Grün erblickte, diese Ahnung eines Lebens, das niemals wirklich hatte wachsen dürfen, wurde er von tiefer Traurigkeit ergriffen.
Der Junge sank auf die Knie, das Mädchen im Arm. Während Ripleys Schatten kraftlos an ihm
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