Der letzte Schattenschnitzer
Crowley schließlich seine Augen öffnete, flammte ein neuer Stern am Nachthimmel auf … So etwas geschieht, wenn die magisch Begabten in eure Welt kommen. Es heißt, dass die geheimen Kräfte des Kosmos den siebenten Söhnen eurer siebenten Söhne innewohnen. Diese, so sagt man, sind die Magischen unter euch Menschen.
Jonas Mandelbrodt hingegen war lediglich der Sohn von irgendwem, der ein Sohn von sonstwem gewesen war. Doch dessen ungeachtet begann er schon vor seiner Geburt, die Welt auf magische Weise zu verändern: So rauchte zum Beispiel seine Mutter mehr als ein Maya-Schamane vom Stamm der Quichése, die das Rauchen einst erfunden hatten. Kaum aber, dass sie von dem heranwachsenden Kind in ihrem Leib erfuhr, da hörte sie auf. Von einem Tag auf den anderen.
Und noch mehr vollbrachte Jonas, lange bevor er überhaupt zur Welt kam: Dadurch nämlich, dass er im Leib seiner Mutter heranwuchs, veränderte er auch seinen Vater. Kaum nämlich, dass dieser von Jonas erfuhr, löste er sich in Luft auf. Das haben Väter schon immer getan. Einige zumindest. Und diese sind, wie ich zu behaupten wage, nicht die besten ihrer Art …
Dreitausend Gramm wog der kleine Jonas, als er ankam in eurer Welt. Und der fehlenden Zeichen wegen hätte ich schwören können, dass keine Unze an ihm magisch war … Und auch der Ort seiner Geburt, die grauen Reihenhausabgründe einer deutschen Kleinstadt, besaßen keinen wirklichen Zauber. Hier warteten auf ihn das Licht der Welt, das Gesicht seiner Mutter und ein Hund, der zu alt zum Bellen war. Und all das sah Jonas mit den Augen eines Kindes, das unfertig und in der wirklichen Welt noch nicht ganz angekommen war. Das liegt daran, dass euer Körper in beinahe allem schneller ist als euer Geist. Wie schnell ist die Liebe gemacht, ein Buch gelesen oder ein Leben gelebt, ohne dass der Geist sich überhaupt auf den Weg begeben hat …
Der Körper Jonas Mandelbrodts war also in der Welt angelangt, in die seine Augen ohne Ziel und Sinn hineinstarrten. Und wenn ich ihn in jenen ersten Tagen schreien hörte, hätte ich einmal mehr schwören mögen, dass er nichts Besonderes war und nichts an ihm magisch …
Doch einem Menschen zu dienen, den die Götter ausersehen haben, nichts Besonderes zu sein, ist alles andere als schlecht. Wir sind, was wir sind. Eure Schatten. Nicht weniger und nicht mehr, und wir dienen demjenigen, an dessen Fuß das Schicksal uns heftet. Wer immer es ist. Und es ist ein angenehmes Dasein, wenn niemand auf die Idee kommt, uns zu formen, zu befragen oder zu Dingen zu bewegen, die wider unsere Natur sind. Auf eben solch ein gewöhnliches Dasein, abseits von Magiern, Alchemisten und Schattensprechern, richtete ich mich ein. Ich wollte mich treiben lassen in eurem entzauberten Zeitalter der Atome und künstlichen Stoffe, wollte durch eure Straßen fließen, stumm und unbemerkt, der Diener eines Menschen, der ebenso gut jeder andere hätte sein können …
Hund und Mutter würden mir bei diesem Dasein zur Seite stehen. Der Hund, ein Irish Setter, trug den Namen Argos, und die Mutter hieß Ruth. Den Namen des Hundes hörte ich jedoch öfter, denn da war niemand, der die Mutter gerufen hätte. Beinahe jedenfalls, denn es gab noch ihre Eltern. Die wohnten ein Haus weiter und schauten nun, kaum dass ihre Tochter sich von der Geburt erholt hatte, beinahe täglich vorbei, um nach ihrem Enkel zu sehen und nach einem neuen Schwiegersohn zu suchen.
Ihre alten Gesichter erschreckten mich, wenn sie über dem Bettchen meines Herrn auftauchten. Ich kannte Menschen dieser Art. Mit jedem Zentimeter, den Jonas wuchs, würden sie bei ihm sein. Und sie würden eine Antwort parat haben. Auf jede Frage, die er sich stellte, während er wuchs. Ihre Antwort. Und sie würden ihm beibringen, ihr Leben zu leben, so dass mir nicht mehr zu tun blieb, als mich von ihm durch die Welt zerren zu lassen und zu schlafen. Kaum dass ich mich mit diesem Gedanken abgefunden hatte, erschrak ich weit weniger beim Anblick der Alten, die das Haus, das Auto und so gut wie alles in jenem Reihenhaus bezahlt hatten. Abgesehen von dem Hund, der die beiden nicht leiden konnte. Tiere sind in solchen Dingen ähnlich feinfühlig wie unsereiner. Sie benutzen ihr inneres Auge, und es bedarf viel, dies zu blenden …
Während der ersten Monate unseres gemeinsamen Daseins hatte ich nicht mehr zu tun, als mich an der Seite meines Herrn an der Brust seiner Mutter festzuklammern. Ich kannte seinen vorbestimmten Weg, hatte
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