Der letzte Tag der Unschuld
Augenwinkeln über das allmählich anschwellende Gesicht. Paulo ging ins Bad, schloss die Tür, die keinen Riegel hatte, und hoffte inständig, dass weder der Vater noch der Bruder hereinkämen, griff nach einem Handtuch und stopfte es sich in den Mund. So weinte und wimmerte er halb erstickt vor sich hin, während irgendwo in der Nachbarschaft erneut ein Radio dröhnend laut die Nachricht vom ersten Flug eines Menschen im Weltall verkündete.
Als er das Zimmer betrat, das er mit seinem Bruder teilte, war Antonio, mit nichts weiter als einer knappen Unterhose bekleidet, gerade dabei, mit einem Paar Hanteln vor dem Kleiderschrankspiegel zu trainieren. Hochgewachsen und behaart, wirkte er mit seinen sechzehn Jahren wie ein Erwachsener. Wie sein Vater und viele andere Nachkommen von Einwanderern aus Nordportugal hatte er deren kräftige Statur und helle Haut geerbt. Sein volles blondes, mit Pomade geglättetes Haar war über der Stirn sorgfältig zu einer Tolle gelegt. Unter den dichten Brauen musterten die Augen, die dunkel waren wie die der Mutter, voller Wohlgefallen den eigenen Körper. Er zählte laut mit, während er die Eisengewichte hob und senkte.
»Was ist denn das für eine Geschichte von einer toten Frau, Schwarzer?«, fragte er seinen Bruder, ohne die Übung zu unterbrechen oder den Blick von seinem Spiegelbild zu wenden.
Paulo antwortete nicht. Er ging zu seinem Bett, das neben dem Kleiderschrank an der Wand stand, bemüht, seine immer noch geröteten Augen vor dem Bruder zu verbergen. Mit dem Rücken zu Antonio hob er das Kissen. Er suchte etwas, aber es war nicht da.
»Und sie haben dich eingelocht, Schwarzer? Den ganzen Nachmittag lang?«
Er sah unter der Tagesdecke und unter der Bettdecke nach: Da war es auch nicht.
»Nun red schon, Schwarzer! Was hast du diesmal wieder angestellt?«
Er hob die Matratze an. Nichts.
»Ich habe gehört, sie war nackt. Splitterfasernackt. Ist das wahr, Schwarzer?«
Er bückte sich, sah unter das hölzerne Bettgestell, richtete sich wieder auf, stieg aufs Bett. Sein Blick glitt über die Oberseite des Kleiderschranks, er strich mit der Hand darüber. Nur Staub.
»Die war echt scharf, diese Frau vom Zahnarzt. Sah aus wie Brigitte Bardot. Eine Mischung aus Brigitte Bardot und Sophia Loren.«
Paulo sagten beide Namen nichts, und er wollte auch nicht wissen, wer die dazugehörigen Frauen waren. Aber sein Bruder hatte etwas anderes gesagt, was ihn überraschte.
»Die Frau vom Zahnarzt? Sie war keine Nutte?«
»Die Frau vom Zahnarzt.«
»Aber im Polizeirevier haben sie gesagt, dass sie eine Nutte war.«
»Sie hat’s mit jedem getrieben. Sie war eine Nutte. Ein echtes Luder. Ein Früchtchen, eine miese kleine Stricherin. Aber sie war mit dem Zahnarzt verheiratet.«
Paulo stieg vom Bett hinunter.
»Hast du sie nackt gesehen, Schwarzer? Sie war wirklich heiß, oder?«
»Sie war ganz voller Blut. Schmutzig, voller Schlamm …«
»Supertitten. Ein super Arsch. Volle Hüften. Richtig heiß. Die hätte ich liebend gern gebumst. Wenn die Schlampe mich rangelassen hätte, wäre sie hinterher völlig verrückt nach mir gewesen.«
Ebenso stolz wie auf seine Bizepse und seine Brustmuskeln war Antonio auf die unwiderstehliche Anziehungskraft, die er seiner Meinung nach auf alle Frauen ausübte, mit denen er schlief. Seit er vor drei Jahren bei einer Prostituierten seine Unschuld verloren hatte, besuchte er mit seinem Vater regelmäßig ein Bordell, das eine polnische Puffmutter in der Nähe des Stadtzentrums betrieb. Häufig blieben sie die ganze Nacht dort. Paulo war ihnen schon öfter auf dem Weg zur Schule begegnet, wenn sie gerade das Hotel Wizoreck verließen.
»Haben sie ihr echt die Brüste abgeschnitten? Hatte sie kein Höschen an?«
Paulo hob die Rosshaarmatratze hoch, sah sich aufmerksam um, lehnte die aufgerichtete Matratze an die Wand.
»Hatte sie blonde Schamhaare? Eine rosa Muschi?«
»Ich will nicht drüber reden. Ich weiß es nicht. Hab nix gesehen.«
»Eine echte Blondine hat eine rosa Muschi und blonde Schamhaare. Ich hab schon viele gesehen. Ich habe schon viele blonde Muschis gefickt.«
Paulo ließ die Matratze zurückplumpsen. Es gab nur einen Zahnarzt in der Stadt, ein dürres Männchen mit schütterem Haar. Paulo hatte ihn nur ein paar Mal gesehen, immer allein, mit Weste und Krawatte. Der konnte es nicht sein.
»Der Zahnarzt ist alt. Sie war jung. Sie sah jung aus.«
»Vierundzwanzig, fünfundzwanzig. Der Zahnarzt ist mindestens doppelt
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