Der letzte Tag der Unschuld
deinem Vater?«
»Das ist nicht mein Vater, das ist der von Paulo.«
»Wenn du mein Sohn wärst, würde ich dir schon zeigen, wie man einen Herumtreiber Anstand lehrt.«
»Ich bin kein Herumtreiber.«
Die Tür ging auf, und eine vierte Männerstimme unterbrach sie: »Der Vater von dem Schwarzen ist da.«
Die erste Ohrfeige, mit dem Handrücken verpasst, traf Paulo am rechten Ohr. Der stechende Schmerz, der seinen Schädel durchfuhr, ließ ihn taumeln, und er fiel nur deshalb nicht hin, weil eine weitere Ohrfeige, diesmal mit der Handfläche, ihn an der linken Kopfseite traf und gegen den Esstisch schleuderte. Er konnte dem Tisch gerade noch ausweichen, da sah er schon, halb betäubt, seinen Vater auf sich zukommen. Er wusste, dass er immer wieder zuschlagen würde, so fest er konnte, bis er sich abreagiert hatte. »Schlechtes Blut«, sagte der blonde, breitschultrige Mann, »schlechtes Blut.« Dann wandte er die blauen Augen mit den Wimpern ab, die so blond waren, dass sie manchmal fast weiß erschienen. »Du hast schlechtes Blut wie deine Mutter und ihre ganze Familie, Dreckskaffer.«
Paulo schwieg. Es hatte keinen Sinn, etwas zu erwidern. Sein Vater würde nicht zuhören, er hörte nie zu, wenn er wütend war. Vor allem, wenn er auf ihn wütend war. Und das war er eigentlich immer. Er könnte versuchen, ihm auszuweichen, um den Tisch herumzurennen, dann hinaus auf die Straße und weiter bis … Wohin? Es gab keinen Ort, an dem er sich verstecken konnte. Niemanden, der ihn aufnahm. Und sein Vater würde noch wütender werden. Es würde alles nur noch schlimmer machen. Wenn er ihn dann erwischte – und früher oder später würde er ihn erwischen –, würde er ihn windelweich schlagen, dass er es noch tagelang spüren würde, so wie früher, bevor er gelernt hatte, stillzuhalten und einzustecken. Jetzt stillzuhalten, weil er dann weniger würde einstecken müssen.
Paulo sah die große Hand auf sein Gesicht zukommen, spürte den Schmerz im Voraus, wusste, dass er mit einem pochenden Schmerz einschlafen und wieder aufwachen würde, einem Schmerz, der auch aus Scham und Kummer über diesen Mann bestand, der ihn immer nur »Kaffer« nannte.
Er fühlte, wie ihn die Pranke zwischen Nase und Ohr traf. Wieder verlor er das Gleichgewicht.
Er ließ sich seitwärts zwischen die Stühle fallen, rollte unter den Tisch, zog instinktiv die Beine an den Körper, krümmte sich zusammen, obwohl er wusste, dass sein Vater ihn wieder hochzerren, ihm mehrere Schläge in den Nacken versetzen und ihn zuletzt mit dem Ledergürtel auspeitschen würde, den er jetzt aus der Hose zog. Aber der Vater zog ihn nicht hoch. Er schlug ein-, zwei-, dreimal mit dem Gürtel zwischen die Stühle, wobei er Paulos Kopf nur streifte. Dann hielt er inne, drosch mit der Gürtelschnalle noch ein paar Mal auf die Möbel ein, warf den Gürtel auf seinen Sohn und befahl: »Raus hier, du Dreckskaffer, verschwinde.«
Paulo kroch unter dem schützenden Tisch hervor, richtete sich auf und wartete, dem Vater den Rücken zugewandt. Was würde als Nächstes kommen? Eine Kopfnuss? Eine weitere Ohrfeige?
Er hörte den keuchenden Atem des Vaters, hörte den endlosen Schwall von Flüchen, aber der Vater kam nicht näher. Das war ein gutes Zeichen. Wenn Paulo jetzt stillhielt, schlug er meistens nicht mehr zu, sondern beschränkte sich darauf, ihn zu verhöhnen. Paulo betete, dass es auch diesmal so wäre.
Sein Vater sagte nur: »Heb den Scheißgürtel auf.«
Paulo bückte sich und hob den Gürtel auf.
»Gib mir das Scheißding.«
Paulo gab ihn ihm.
»Du bist zu nichts zu gebrauchen, Dreckskaffer, du hast noch schlechteres Blut als sie alle, du schwarzer Herumtreiber, du kommst ganz nach ihnen, du taugst noch weniger als die ganze Mischpoke von deiner Mutter.«
Paulo senkte den Kopf und spürte wieder den tiefen Schmerz, den er auch später im Leben noch spüren würde, sobald er an die Augenblicke mit seinem Vater zurückdachte, ein Schmerz, der nicht nur von den Schlägen kam, das wusste er, aber ihn lokalisieren oder verstehen konnte er nicht.
Der Vater ging hinaus und knallte die Tür hinter sich zu.
Paulo blieb allein im Wohnzimmer zurück. Der Schmerz wurde stärker, kroch seine Beine hinauf, erfasste Arme und Brust, bis er die Augen erreichte, wo er sich in Tränen verwandelte. Er biss sich auf die Unterlippe, fest, immer fester, um den Schmerz durch einen anderen zu ersetzen. Aber die Tränen liefen trotzdem, ein schmales Rinnsal, aus den
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