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Der letzte Tag der Unschuld

Der letzte Tag der Unschuld

Titel: Der letzte Tag der Unschuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edney Silvestre
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viele es waren.«
    »Ich hab nicht gezählt. Gib mir das Buch, Antonio!«
    »Sag schon: wie viele? Wie viele?«
    »Ich weiß es nicht, ich kann mich nicht erinnern, ich weiß es nicht.«
    »Du warst da, du hast es gesehen. Wie viele?«
    »Das Buch, Antonio.«
    »Wie viele waren es? Sag schon.«
    »Gib mir …«
    Plötzlich sah Paulo wieder die abgeschnittene Brust vor sich, das leuchtende Rot des bloßliegenden Fleischs, gesäumt von Schlamm und Blut. Seine Knie wurden weich, und ihn schwindelte. Kraftlos sank er aufs Bett, schwieg und ließ den Kopf hängen.
    Antonio musterte ihn eine Weile. Er war überzeugt, dass sein Bruder nur Theater spielte und im nächsten Augenblick wieder auf ihn losgehen würde, weshalb er das Buch weiter fest in der rechten Hand hielt, hoch über seinem Kopf. Aber Paulo blieb reglos auf dem Bett sitzen, die Hände vors Gesicht geschlagen. Sein Bruder warf ihm das Buch zu und zog sich an, um auszugehen.

2
    Noche de Ronda
    Luna que se quiebra
    Sobre la tiniebla
    De mi soledad
    ¿… a dónde vas?
    Woher kam diese Stimme?
    Dime si esta noche
    Tu te vas de ronda
    Como ella se fue …
    Wo habe ich dieses Lied zum ersten Mal gehört?, sollte er sich viele Jahre später fragen. Es war ein Mann, der da sang. Oder war es eine Frau?
    ¿Con quien está …?
    Die Stimme hatte zitternd und verzerrt geklungen, daran erinnerte er sich noch. Sie kam aus einem Radio, vielleicht auch von einem Plattenspieler in der Nachbarschaft. Oder von einem Kassettenrekorder. Damals, 1961, gab es schon Kassettenrekorder. Wirklich? In dieser Stadt? Wer hätte so etwas besitzen können? Jedenfalls kein Arbeiter. Niemand in dieser Straße hätte sich damals einen Kassettenrekorder leisten können. Auch kein Vater, der im Schlachthof arbeitete. Es war ganz bestimmt niemand aus dieser Straße gewesen. Oder vielleicht doch. Vielleicht bekam man damals leichter einen Kredit, und jeder, der eine feste Arbeit nachweisen konnte – oder auch nicht –, konnte für lächerliche Monatsraten einen Kassettenrekorder kaufen. Ein Maschinenführer, ein Arbeiter aus dem Sägewerk, selbst eine Näherin – sie alle konnten sich damals Wünsche erfüllen: Die Zeiten, in denen man sich einbildete, den Überfluss mit Händen greifen zu können, waren bereits angebrochen. Warum also nicht ein Kassettenrekorder? Oder auch ein Tonbandgerät. Hatte es Anfang der sechziger Jahre schon Tonbandgeräte gegeben? Jemand, den ich kannte, muss eines dieser Tonbandgeräte mit zwei braunen Spulen besessen haben, die sich drehten und die Stimme wiedergaben, die dieses Lied sang, wie sollte ich mich sonst jetzt daran erinnern?
    Dile que la quiero
    Dile que me muero de tanto esperar
    Que vuelva ya …
    Es war eine Plattentruhe gewesen, glaubte er Jahre später. Eine Plattentruhe mit Radio. Eines von diesen Abspielgeräten für schwarze, schwere Platten mit einem runden Aufkleber in der Mitte, die in Papierhüllen steckten. Wie die Platten von Hanna Wizoreck. Vielleicht war das spanische Lied auf einer dieser Plattentruhen gelaufen. Aber damals kannten wir Hanna Wizoreck noch nicht. Bei mir zu Hause gab es weder Plattentruhen noch Schallplatten. Und bei ihm auch nicht. Wusste ich, dass es ein spanisches Lied war?
    Que las rondas
    No son buenas …
    Habe ich wirklich, so zweifelte er viele Jahre später, die Stimme gehört, die jetzt durch meine Erinnerungen weht? Oder habe ich die Musik der Erinnerung an diese Nacht nachträglich hinzugefügt? Ich habe mir vorgestellt, dort und damals habe ich mir vorgestellt, dass die Frau, die wir nur tot gesehen hatten, jenen Bolero von Agustín Lara liebte. Dass sie »Noche de Ronda« auf dem Plattenspieler hörte, oder im Radio oder auf einem Kassettenrekorder. Vielleicht habe ich aber auch erst später erfahren, dass sie diese schwermütigen Lieder liebte.
    Nein.
    Nein.
    In jener Nacht wusste ich nichts über ihr Leben. Das Lied habe ich mir erst später dazugedacht. Ich habe es später gehört. Das spanische Lied, die nächtliche Stimme, das alles habe ich hinzugefügt und … Nein. Nein. Nein. Jetzt bin ich sicher: Ich habe es in jener Nacht gehört. Eine Männerstimme. Glaube ich jedenfalls. Das würde passen: eine Männerstimme. Ella se fue , singt er, sie ist fort. Er beklagt ihren Verlust. Also eine Männerstimme. Glaube ich. Weiß ich. Glaube ich. Eine tiefe Männerstimme. Am Abend des Tages, an dem wir ihre Leiche gefunden hatten.
    Que hacen daño,
    Que dan pena …
    Auf der schwach erleuchteten

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