Der letzte Tag: Roman (German Edition)

jetzt eine Handvoll dieser Überlebenden ihr Schweigen bricht, zum ersten Mal seit den polizeilichen Ermittlungen im Jahr 1975. Wenn so etwas passiert, das können Sie sich wahrscheinlich denken, dann deshalb, weil sie etwas zu sagen haben. Etwas, das sie unbedingt loswerden müssen. Wovor sie bisher aber Angst hatten. Und damit geben sie uns die außergewöhnliche Gelegenheit für ein bahnbrechendes neues Werk zu diesem Thema.
    Schwester Katherine hatte einen gigantischen Einfluss auf ihre Gefolgschaft. Sie hat ihr Leben grundlegend verändert. Durchaus auf eine schreckliche Weise. Ihre Grausamkeit war unbeschreiblich. Aber gleichzeitig hatte sie eine besondere Begabung zur Imagination des Unerklärlichen. Sie hatte die Fähigkeit, Menschen in ihren Bann zu ziehen.«
    Max nippte an seinem Glas Mineralwasser. »Es war eine gehörige Portion Überredungskunst nötig, um der immer kleiner werdenden Gruppe von Überlebenden die Bereitschaft zum Reden abzuringen.« Er lächelte und hob eine Hand. »Außer diesen Leuten ist tatsächlich niemand mehr übrig. Es ist mir sogar gelungen, die legendäre Martha Lake ausfindig zu machen, ebenso Bridgette Clover.« Er wartete ab, ob sich auf Kyles Gesicht ein Ausdruck des Wiedererkennens zeigte. Als das nicht der Fall war, schien er enttäuscht zu sein. »Die beiden Hauptzeuginnen für die Verhandlung – wenn der Fall je vor Gericht gekommen wäre. Sie wurden berühmt, als die Geschichte 1975 in die Zeitungen kam. Zwei junge Frauen, die drei Monate vor der Nacht des Aufstiegs mit ihren Kindern aus dieser Mine in Arizona flohen. Leider ist die arme Bridgette in diesem Jahr von uns gegangen. Aber Martha, die gute, gute Martha ist noch da und begierig darauf, uns ihre ungeheuerliche Geschichte zu erzählen.«
    Kyle ließ seinen Blick über die Wände des Zimmers gleiten, in dem es hell war wie in einem Labor oder einem Foto-Studio. Dort hingen eingerahmte Buchtitel über Blutzucker-Diäten und alte Plakate, die Bestseller über spirituelle Erweckung auf VHS-Kassetten anpriesen. »Damit sind Sie aber ganz schön von Ihrem Weg abgekommen, finden Sie nicht? Besonders bekömmlich oder anheimelnd ist diese Geschichte jedenfalls nicht.«
    Max strahlte. »Deshalb glaube ich ja, dass dieses Projekt genau das Richtige für Sie ist. Unsere Firma Revelation Productions hat extra einen eigenen Produktionszweig ins Leben gerufen. Mysteris. Eine Unterabteilung für den Online-Vertrieb über eine Bezahl-Plattform in Kombination mit DVD-Veröffentlichungen. Wir sind dabei, unsere Branche zu revolutionieren, Kyle. Wir wollen das Besondere, das Avantgardistische in unserem Programm haben. Die neue Sparte wird einen Grundstein legen für außergewöhnliche subkulturelle Filmprojekte, die sich mit alternativer Geschichtsschreibung und bislang ungeklärten Geheimnissen beschäftigen. Der Film über den Tempel der Letzten Tage wird die Speerspitze sein. Wissen Sie, der Tempel hat eine ziemlich große Online-Gemeinde. Und die wird bislang kaum mit Material versorgt, jedenfalls nicht auf die Art, wie ich sie eben skizziert habe.
    Wenn wir die Digital-Technik benutzen, können wir auf ziemlich niedrigem Kostenniveau produzieren, so wie Sie es bereits angedeutet haben. Und wenn die Produktionskosten gedeckt sind, wird der Gewinn auf einer kooperativen Basis mit den Künstlern geteilt.«
    Max lehnte sich in seinem Sessel zurück und lächelte. Dann hob er die Hände. »Kyle, ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie gut es sich anfühlt, mal wieder so richtig die Ärmel hochzukrempeln und sich erneut in die Schlacht zu werfen, wie man so sagt.« Er wandte sich lächelnd den Bildern an der Wand zu. »Glauben Sie denn, ich habe diese Firma gegründet, um mich auf meinen Lorbeeren
auszuruhen? Veganes Essen und aromatisierte Öle können Sie heute in jedem Supermarkt kaufen.« Er schüttelte verzweifelt den Kopf. »Ich war einer von denen, die alternative Gesundheitspraktiken und spirituelle Wellnessprogramme propagiert haben, als es noch was Besonderes war. Das war eine echte Lifestyle-Revolution. Und ich war dabei. Damals in den Sechzigern. Und jetzt möchte ich endlich wieder ein bisschen kreativ werden.«
    Kyle musste sich mächtig anstrengen, um nicht in Jubel auszubrechen. »Und Sie wollen, dass ich den ersten Film für Sie mache?«
    »Genau.« Max tippte mit seinem manikürten Zeigefinger auf den Ordner, der zwischen ihnen auf dem Schreibtisch lag. Jetzt konnte er die Dringlichkeit seines Anliegens nicht mehr