Der letzte Werwolf
Jagdgesellschaft. Alle hochrangigen Mitglieder der WOKOP (der Weltorganisation zur Kontrolle Okkulter Phänomene) sind entweder stinkreich oder stehen wegen ihrer Fähigkeiten auf der Lohnliste von Stinkreichen. Grainers Spezialgebiet ist es, meine Art aufzuspüren und umzubringen.
Meine Art
. Von der ich nun dank WOKOP s Killern und eines ganzen Jahrhunderts ohne New Wolf Kids on the Block der Letzte bin. Ich dachte an den Berliner, dessen Vorname (Gott ist tot, aber die Ironie noch immer quietschlebendig) Wolfgang lautete, stellte mir seine letzten Augenblicke vor: der Frost, der unter ihm aufwirbelt, seine vom Mondlicht glänzende Schnauze, das schweißnasse Fell, der Sekundenbruchteil, in dem in seinen Augen Ungläubigkeit und Angst und Entsetzen und Trauer und Erleichterung geschrieben stehen – dann nur noch das weiße, letzte Licht des Silbers.
»Was hast du jetzt vor?«, wiederholte Harley.
Alles Wolf, keine Gang
. Der Humor wird immer schwärzer. Ich sah zum Fenster hinaus. Der Schnee fiel mit der Unerbittlichkeit einer alttestamentarischen Plage. Auf der Earl’s Court Road stolperten und rutschten die Passanten und spürten in der kalt wirbelnden, himmlischen Frische ihre noch immer vorhandene Kindheit und den Schock, wie ein abgeknickter Stängel, keine Kinder mehr zu sein. Vor zwei Nächten hatte ich einen dreiundvierzigjährigen Hedge-Fonds-Spezialisten gefressen. Ich bin gerade in der Lebensphase, wo ich diejenigen reiße, die keiner mehr haben will. Offenbar meine letzte Phase.
»Nichts«, antwortete ich.
»Du wirst London verlassen müssen.«
»Wozu?«
»Davon will ich nichts hören.«
»Es ist an der Zeit.«
»Ist es nicht.«
»Harley –«
»Du hast die Pflicht weiterzuleben, so wie wir alle.«
»So wie ihr alle wohl eher nicht.«
»Trotzdem. Du wirst weiterleben. Und komm mir nicht mit diesem poetischen Blödsinn von wegen du seist müde. Das ist Quatsch. Es ist falsch.«
»Ist es nicht«, erwiderte ich. »Ich bin müde.«
»Du bist schon zu lange auf der Welt, die Geschichte ermüdet dich, zu viel Inhalt, bist übersatt bis zur völligen Leere – hast du mir alles schon erzählt. Ich glaube dir kein Wort. Und außerdem gibst du sowieso nicht auf. Du liebst das Leben, weil das Leben alles ist. Es gibt keinen Gott, das ist sein einziges Gebot. Gib mir dein Wort darauf.«
Ich dachte, wie der ehrliche Teil von mir es schon von dem Augenblick an gedacht hatte, als Harley mir die Neuigkeit übermittelt hatte:
Nun sag schon. Das Unsagbare. Du hast dich gefragt, welchen Aufschub man dir geben würde. Einhundertsiebenundsechzig Jahre, wie sich herausstellt. Ganz schön lang, um ein Mädchen warten zu lassen.
»Gib mir dein Wort darauf, Jake.«
»Worauf?«
»Darauf, dass du nicht wie ein Kohlkopf hier sitzenbleibst, bis Grainer dich findet und erledigt.«
In meinen Vorstellungen hatte dieser Augenblick blanke Erleichterung gebracht. Nun war der Augenblick da, die Erleichterung, aber sie war nicht blank. Aus Protest flackerte die schäbige kleine Flamme der Ichbezogenheit auf. Nicht dass mein Ich noch das wäre, was es früher mal war. Heutzutage verdient es nur noch ein trauriges Lächeln, ähnlich dem leisen Aufflackern spärlicher Lust in den Hoden eines alten Mannes. »Sie haben ihn erschossen, oder?«, fragte ich. »Den Herrn Wolfgang?«
Harley sog unruhig an seiner Zigarette, drückte die Gauloise in einem Onyx-Aschenbecherständer aus und schnaubte den Qualm durch die Nase. »Nein, sie haben ihn nicht erschossen«, entgegnete er. »Ellis hat ihm den Kopf abgeschnitten.«
2 .
Alle Paradigmenwechsel sind die Antwort auf das amoralische Verlangen nach etwas Neuem. Obamas Wahlsieg, zum Beispiel. Oder damals die Berichterstattung über Auschwitz. Gut und Böse zählen dabei nicht. Zeig uns, dass die Welt nicht so ist, wie wir dachten, und wir werden innerlich jubeln. Ausnahmen gibt es nicht. Das eigene Todesurteil löst ein verrücktes kleines Halleluja in einem aus, und meines ist schon unerhört lange überfällig. Seit zehn, zwanzig, dreißig Jahren schleppe ich mich nun schon der Form halber weiter. Wie lange leben Werwölfe?, fragte mich Madeline neulich. WOKOP zufolge etwa vierhundert Jahre. Ich weiß nur nicht
wie
. Natürlich setzt man sich Ziele – Sanskrit, Kant, Infinitesimalrechnung, Tai Chi –, aber damit beantwortet man ja nur die Frage nach der Zeit. Die größere Frage, die nach dem Sein, wird dabei nur immer noch größer (kaum überraschend, dass Vampire immer
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