Engelsauge - Die Jagd beginnt (German Edition)
1
Altes Leben adieu
Natürlich war ich traurig, als ich vom Unfalltod meiner Adoptiveltern hörte. Immerhin hatten mich Marcia und Gregory Jonsens über sechzehn Jahre lang aufgezogen, also fast mein ganzes bisheriges Leben.
In erster Linie aber hatten sie mir nur ein Dach über dem Kopf, Essen und Kleidung gegeben. Dass man unter dem Wort Familie aber noch etwas weitaus Liebevolleres verstehen kann, musste ich die Jahre über immer wieder durch andere befreundete Familien, sowie den Umgang meiner Adoptiveltern mit ihrer leiblichen Tochter Tessa, welche all ihre Liebe und Aufmerksamkeit bekam, kennenlernen. Und jedes Mal sehnte ich mich mehr nach meinen leiblichen Eltern und fragte mich, wie mein Leben wohl mit ihnen ausgesehen hätte.
Aber alles kam anders und ich lebte jetzt seit sechzehn Jahren hier in Arizona, einem durchaus schönen Land, für mein persönliches Verlangen aber viel zu warm. Ich hatte nie hierher gepasst, weder nach Arizona noch zu den Jonsens. Sie aber auf so schlimme Weise zu verlieren, tat mir dennoch sehr weh.
Jetzt stand ich vor diesen zwei üppig geschmückten Gräbern, umringt von unzähligen, in schwarz gekleideten Menschen. Es waren Leute aus der Familie, Freunde, Arbeitskollegen und Nachbarn gekommen und alle schauten Tessa und mich mit diesen hilflosen traurigen Gesichtern an. Eine Art und eine Stimmung, mit der ich nicht gut umgehen konnte. Vielleicht, weil es das erste Mal war, dass ich auf einer Beerdigung mir nahestehender Personen war oder es lag auch einfach an der Tatsache, dass meine leiblichen Eltern, laut Aussage meiner Adoptiveltern und einem alten Zeitungsbericht, den ich vor einiger Zeit dazu gefunden hatte, ebenfalls bei einem Autounfall gestorben waren. Genau wie Marcia und Greg. Ob meine Eltern eine ähnliche Beerdigung gehabt hatten?
Ich hatte durchaus noch ein paar leichte, wenn auch zum größten Teil schwammige Erinnerungen an meine Eltern und auch an den Unfall. Und das, obwohl ich damals gerade erst fünf Jahre alt gewesen war. Damals saß ich hinten im Auto, als der Unfall passierte, und überlebte als Einzige, was mich keineswegs stolz oder glücklich macht. Das, was mich allerdings jeden Tag an diesen Unfall erinnern wird, ist eine kleine Narbe an meiner rechten Handinnenseite. Meistens nehme ich sie nicht wahr, aber manchmal fängt die Narbe an zu schmerzen, was in letzter Zeit auch öfter der Fall ist und dann treten wieder die alten Schmerzen in meiner Seele auf. Die Schmerzen eines kleinen Mädchens, das seine Eltern auf tragische Weise verloren hatte und über dessen Verlust ich auch jetzt mit meinen einundzwanzig Jahren nicht hinwegkomme.
Der Beerdigung meiner Eltern hatte ich damals nicht beiwohnen dürfen, da man dies einem kleinen Mädchen, das einen so schlimmen Verlust erlitten hatte, nicht auch noch antun wollte. Zumindest war das Gregorys Begründung gewesen, aber aus irgendeinem Grund hatte ich das Gefühl, er erzählte mir nicht die ganze Wahrheit. Unabhängig dessen, wie soll man den Tod seiner eigenen Eltern jemals verarbeiten können? Ich konnte es jedenfalls nicht sonderlich gut. Gregory und Marcia waren von Anfang an ehrlich zu mir gewesen, besonders Onkel Gregory hat, vor allem aber auf mein ständiges Flehen und Bitten hin, die Erinnerungen an meine Eltern immer aufrechterhalten und das hat mir letztendlich geholfen, überhaupt damit leben zu können, denn es fehlt einem einfach ein großes Stück, ohne das man sich nicht als Ganzes fühlt. Auf die Frage, woran ich mich erinnern könnte, antwortete ich seit fast siebzehn Jahren immer das Gleiche: an das Gesicht meiner Mutter, als sie sich noch einmal zu mir umdrehte. Aber dies stimmte nur zum Teil, denn manchmal sah ich in meinen Träumen auch andere Gesichter und mich überkam mittlerweile immer mehr dieses Gefühl, dass es sich nicht um einen Unfall gehandelt hatte. Dieses Gefühl wurde seit einiger Zeit immer stärker, ohne dass ich Einfluss darauf nehmen konnte. Seit meinem zwanzigsten Lebensjahr träumte ich von dem Unfall immer häufiger und immer öfter wachte ich schweißgebadet davon auf. Seit fast zwei Jahren ging das nun so, aber trotz meiner Nachforschungen und dem ständigen Nachfragen bei Gregory, denn Marcia gab mir eines Tages unwiderruflich zu verstehen, ich solle sie endlich mit meinen toten Eltern in Ruhe lassen, blieb alles ergebnislos. Seit diesem Tag gingen Marcia und ich uns so gut wie möglich aus dem Weg, Gregory hielt natürlich immer
Weitere Kostenlose Bücher