Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der letzte Werwolf

Der letzte Werwolf

Titel: Der letzte Werwolf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Glen Duncan
Vom Netzwerk:
Er hatte es heil in den Foundation Club geschafft.

4 .
    Es fällt einem schwer, 1965 – das Jahr, in dem ich Harley das Leben rettete – nicht für ein Jahr zunehmender sexueller Anarchie zu halten. Die Anti-Vietnam-Demonstrationen brachten junge Männer und Frauen zusammen und zeigten deutlich auf, welch erotisches Potential politischen Aktivitäten innewohnte. Norman Mailers tabubrechendes Werk
Der Alptraum
erschien. Auf allen amerikanischen Magazinen prangte Brigitte Bardot, und in England kam heraus, dass sich Myra Hindley und Ian Brady davon antörnen ließen, Kinder umzubringen. Noch war nicht alles erlaubt, aber immerhin war schon alles Mögliche los.
    Es fällt einem schwer, nicht so zu denken, doch wenn man so denkt, kapituliert man nur vor den künstlichen Verdichtungen der Populärgeschichte. Die Tatsachen stimmen, die Interpretation aber nicht. Das 1965 , das sich die Menschen heute vorstellen, kam erst um 1975 , und selbst in jenem übersättigten Jahr wäre das, was Harley zugestoßen war, ebenfalls geschehen. Es wäre auch zehn, zwanzig, dreißig Jahre später geschehen. Es geschieht heute noch.
    Wayland’s Smithy ist ein fünftausend Jahre altes Hügelgrab im Tal von Uffington, eine Meile östlich von Ashbury, gleich südwestlich des White Horse Hill in den Berkshire Downs. Es liegt hinter einem kleinen Hain fünfundvierzig Meter neben dem Ridgeway verborgen, einem in den kreidigen Boden getrampelten Pfad entlang der Höhenlinie der Downs, den
homo sapiens
schon seit mehr als einer Viertelmillion Jahren gegangen war (wobei er nach und nach die Knöchel vom Boden genommen hatte). Der örtlichen Legende nach lässt man sein Pferd am Grab zurück, legt eine Münze auf den Abschlussstein, und wenn man zurückkommt, hat Wieland, der Schmied der alten sächsischen Götter, das Pferd neu beschlagen. Am Tag schlendern die Menschen vom White Horse Hill herüber, stochern herum, senken ihre Stimmen, halten sich nicht lang auf. Die Steine strahlen eine Kühlkammerkälte ab. Bei Nacht ist der Ort verlassen.
    Sie hatten Harley dorthin verschleppt, um ihn zu foltern.
    Ich hätte überhaupt nicht dort sein sollen. Ich hätte hinter meinen eigenen Gittern hausen sollen, in einem eigens dafür erworbenen Farmhaus eine Meile entfernt (ach, die Machenschaften jener Tage vor Erfindung der Mikroelektronik! In meiner Zelle befand sich ein gusseiserner Safe, in dem der Schlüssel zur Zellentür klebte. Der Safe war zugeschweißt worden, aber er hatte ein Loch, durch das man eine menschliche Hand stecken konnte. Eine
menschliche
Hand. Nach der Verwandlung hätte ich warten müssen bis zur Rückverwandlung. Die einfachsten Lösungen sind doch die besten). Ich hätte, um das noch einmal zu betonen, hinter Schloss und Riegel sein sollen, von mir selbst eingesperrt und betäubt, doch im letzten Augenblick war ich schwach geworden. Ich war in einer Phase, wo ich jeden zweiten Vollmond jemanden erlegte (nicht aus ethischen Überlegungen, sondern aus Angst vor der Jagdgesellschaft, die seit den Nachkriegsenthüllungen über den Okkultismus der Nazis massiv rekrutiert hatte), doch diese Abstinenz war die reinste Folter, selbst mit Barbituraten, Benzodiazepin, Chloroform, Äther. In jener Nacht war ich oben an der Kellertreppe stehen geblieben und die vor mir liegenden Stunden durchgegangen. Du gehst nach unten, nimmst die Pillen, erleidest einen Nahtod, überlebst. Du bist noch am Leben und hast niemanden umgebracht. Nun ja. Aber. Die kahlen Wände, die Gitter, der steinerne Fußboden, der aufmunternde, solide, alberne Safe. Selbst im Keller lockte der aufgehende Vollmond wie die Jungfrau Maria auf einem Bett und sprach: »Bitte,
bitte, bitte
, nimm mich endlich, okay?«
    Mit einer heftigen Grimasse und einem im Geiste gesprochenen
Scheiß drauf
drehte ich mich um und ging wieder nach oben …
    Der erste Drang, einfach wie der Todesengel auf die nächstgelegene Farm, das nächste Dorf herabzustoßen, hielt nicht lange an. Eine verrückte kleine Phantasievorstellung, Ergebnis von einem Monat ohne Lebendfleisch. Außerdem war ich zu diesem Zeitpunkt bereits ein alter Hund. Schon seit langem setzte ich auf kurze Affären und Verzögerung. Du lässt dich eine Weile vom Hunger treiben, gibst den wölfischen Körperformen ordentlich Auslauf. Die Muskeln werden warm, und das Bewusstsein geht fast vollständig in animalischer Freude auf. Du rennst, und die Nacht umfängt dich wie kalte Seide. Ich überquerte die Eisenbahnlinie

Weitere Kostenlose Bücher