Der letzte Werwolf
Komm, wir geh'n!“
Aber Phil hatte eine Entdeckung gemacht. „Valentina, auf der Grabplatte steht was! Hör mal! – Nun Zeit …“ Er stockte.
Valentina setzte Herrn Bozzi, der sich auf ihrem Arm wie ein Aal schlängelte, ab und wandte sich der in die Grabplatte eingemeißelten Inschrift zu. „Nunc tempus faciendi, nunc tempus pugnandi“, las sie. „Jetzt ist Zeit zu handeln, jetzt ist Zeit zu kämpfen“, übersetzte sie mühelos.
Sie hatte kaum ausgesprochen, als etwas geschah, das sich für immer in ihre Erinnerung einbrannte.
Im Schein der Taschenlampe, den der weiße Marmor hell reflektierte, beobachteten sie fassungslos, wie die Skulptur allmählich ihre Stofflichkeit veränderte, wie dem Tier ein weißes Fell spross, wie es von Sekunde zu Sekunde mehr zum Leben erwachte, bis schließlich ein großer schneeweißer Hund vor ihnen lag, der – soweit sie sehen konnten – einem Husky ähnelte. Valentina zuckte zurück, als das Tier sich mit einem Mal streckte, gähnte und schwerfällig erhob.
Stumm zog Phil seine Schwester ein Stück zurück.
Jede Sehne gespannt, mit hoch aufgerichteten Ohren, hatte Herr Bozzi die Verwandlung verfolgt. Anders als seine menschlichen Freunde schien er nicht die geringste Furcht vor dem geheimnisvollen Artgenossen zu haben. Er begrüßte sein Erwachen schwanzwedelnd. Und als der große weiße Hund mit einem steifen Satz von der Grabplatte sprang, überschlug er sich fast vor Freude.
Valentina warf Phil einen verstörten Blick zu. „Allmählich zweifle ich an meinem Verstand“, sagte sie tonlos. „Ich könnte schwören, dass der Hund vorhin noch aus Stein war.“
Phil, der kein Auge von dem weißen Hund ließ, fuhr sich in einer ratlosen Geste durchs Haar. „Quatsch. Das ist unmöglich. Wahrscheinlich eine optische Täuschung. Es muss an dem schlechten Licht gelegen haben. Herr Bozzi hat ihn doch gewittert. Sicher hat ihn jemand hier eingesperrt.“
„Was für eine gemeine Tierquälerei!“ Valentina atmete auf. Phils fadenscheinige Deutung war wenigstens halbwegs plausibel. Dann holte sie tief Luft. „Ich will jetzt hier raus. Und zwar sofort!“
„Und der weiße Hund?“
„Der kommt mit. Wir können ihn doch nicht hier zurücklassen.“ Valentina bewegte sich langsam auf das Tier zu. Der Hund blickte sie aus hellblauen Augen verwundert an. Ein heiß-kalter Schauer lief ihr über den Rücken.
„Gefährlich scheint er jedenfalls nicht zu sein“, sagte Phil erleichtert. „Und Herr Bozzi mag ihn. Morgen bringen wir ihn ins Tierheim.“
Die Geschwister waren froh, als der mysteriöse Tempel hinter ihnen lag. Der weiße Hund, der Valentina bis zur Hüfte reichte, schritt gesittet neben ihnen her. Herr Bozzi eskortierte ihn das erste Stück schwanzwedelnd. Dann machte er unvermutet kehrt und verschwand in der Nacht.
Wieder blieben sie stehen und riefen und warteten. „Verdammt“, zischte Phil. „Ich mach Hotdog aus ihm!“
Doch diesmal kam der Dackel-Terrier-Mix von sich aus zurück. Mit fliegenden Ohren, das Bällchen in der Schnauze.
„Neurotisch ist er. Hundertpro!“, sagte Valentina. „Aber seine Nase ist erstklassig.“
K APITEL 3
D er weiße Hund zuckte heftig zusammen, als Phil in der Diele das Licht anknipste. Wie angewurzelt blieb er stehen. Mit bedächtigen Schritten durchquerte er sodann den Raum, betrachtete aufmerksam den Flügel und inspizierte jede Einzelheit mit einem Ausdruck, den man nur als Verwunderung interpretieren konnte.
Valentina breitete ein altes Badehandtuch neben Herrn Bozzis Körbchen aus. Dann verschwand sie in der Küche, Hundefutter und Wasser für ihren vierbeinigen Gast zu holen.
Mit einem Blick, der Valentina erneut Gänsehaut über den Rücken jagte, ließ der große Hund die Futterschüssel stehen und legte sich, nachdem er etwas Wasser zu sich genommen hatte, auf den ihm zugedachten Platz. Etwas, das sich schwer beschreiben ließ, hielt Valentina davon ab, ihn zu streicheln. Herr Bozzi schien ihre Befangenheit nicht zu teilen, denn er kuschelte sich eng an den dicht behaarten Körper des weißen Tiers, das ihn gewähren ließ.
„Er ist schön“, sagte Phil, als sie zu ihren Zimmern hochgingen. „So würdevoll und ruhig, das genaue Gegenteil von Herrn Bozzi. Er würde Isolde vielleicht sogar gefallen.“
Er sprach damit aus, was Valentina inständig hoffte. Sie fühlte schon jetzt eine merkwürdige Nähe zu dem herrlichen schneeweißen Hund und die Vorstellung, ihn weggeben zu müssen, schmerzte
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