1550 - Die Frau aus der Knochengrube
Farina erhob sich. Er tat es langsam und zögernd, obwohl er wusste, dass er nicht anders konnte. Der innere Zwang war einfach zu stark.
Er drehte sich vom Schreibtisch weg und wusste genau, wohin er zu gehen hatte. Es gab nur das eine Ziel - die Tür.
Der heutige Tag war äußerst wichtig für ihn, denn es würde sich alles ändern.
Bevor er die Tür seines Zimmers aufzog, schaute er über die Schulter zurück zum Fenster. Dort stand die Schattenfrau nicht mehr. Sie schien sich aufgelöst zu haben, aber Rudy wusste, dass dies nicht stimmte. Es gab sie weiterhin, und es würde sie immer geben.
Sie kannte sich aus, denn sie hatte den Tod überwunden. Sie war so real auf der einen und unwirklich auf der anderen Seite. Welche genaue Ursache das hatte, war Rudy unbekannt. Er hatte auch kein Interesse daran, weiterhin darüber nachzudenken. Er wusste, welchen Weg er zu gehen hatte, und nichts würde ihn davon abbringen.
Niemand hielt sich in dem kleinen Haus am Ortseingang auf. Seine Eltern waren arbeiten. Mit seinen siebzehn Jahren ging Rudy noch zur Schule, und da beide Eltern im Gastgewerbe beschäftigt waren, verbrachte er die Abende oft allein.
Es machte ihm nichts aus, denn er hatte sein Glück gefunden. Andere, die ebenso dachten wie er.
Im schmalen Flur griff er zur Jacke. Sie war innen mit künstlichem Fell gefüttert. Bei diesem kalten und windigen Wetter würde sie ihn auf seinem letzten Weg warm halten, obwohl er nicht wusste, ob der Tod kalt oder warm war. Ihm war nur klar, dass es ihn gab und dass er sich danach sehnte.
Zudem wusste er, dass man ihn erwartete. Er hatte die Schattenfrau bereits am Fenster gesehen. Also war die Zeit reif für ihn.
Rudy verließ das Haus.
Es war eine günstige Zeit für das, was er vorhatte. Der Tag neigte sich dem Ende entgegen. Noch lauerte die Dunkelheit im Hintergrund. Der Himmel zeigte ein dichtes Wolkengebilde, das der Wind hin und wieder bewegte und wie eine gewaltige Masse vor sich her schob, die ständig Nachschub erhielt.
Der Junge wusste genau, welchen Weg er nehmen musste. Da er am Rand der Ortschaft wohnte, musste er nicht weit laufen.
Der Friedhof lag auf einem flachen Hügel. Er war schon sehr alt.
Generationen von Menschen waren auf ihm begraben worden, und es war noch genug Platz für viele weitere Jahre vorhanden.
Das Wetter kam ihm entgegen. Denn es trug dazu bei, dass die Leute in ihren Häusern und Wohnungen blieben. Der Wind war zu kalt, und es roch sogar ein wenig nach Schnee.
Rudy nahm den kürzesten Weg. Es war ein Pf ad, der an den noch nicht völlig fertig gestellten Neubauten vorbei führte. Hier sahen die Häuser aus wie Gerippe. Durch die leeren Fenster-und Türöffnungen pfiff der Wind. Erst im Frühling sollte weitergebaut werden.
Er ließ sich den Wind ins Gesicht blasen. Er orgelte in seinen Ohren. Die Geisterstimmen der Toten schienen ihm vom nahen Friedhof entgegenzuwehen.
Er sah die alte Kapelle, die zugleich als Leichenhalle diente. Im Laufe der Zeit hatte das Dach eine dunkle Farbe angenommen. Grau wie Asphalt sahen die Fensterscheiben aus. Bäume, die in der Nähe standen, schienen mit ihren knorrigen Ästen nach dem Bau greifen zu wollen.
Rudy Farina senkte seinen Kopf. Die Hände hatte er in den Jackentaschen vergraben. Seine Lippen bildeten einen schmalen Spalt.
Wenn er atmete, dann nur durch den Mund.
Sein Gehen wurde zu einem Stampfen. Der letzte Regen lag noch nicht lange zurück. Er hatte den Boden aufgeweicht. Er war auch nicht der normale Weg, den Rudy nahm. Er wollte nicht gesehen werden.
Eine graubraune Mauer, die fast die gleiche Farbe hatte wie das Gras, durch das er ging. Sträucher hatten sich an der Außenseite der Mauer festgekrallt. Ihre Krone war mit einer dicken Patina aus Moos bedeckt.
Das Hindernis war nicht hoch. Der Junge kletterte geschickt darüber hinweg.
Auf der anderen Seite blieb er stehen und nickte, während sein Blick über die zahlreichen Gräber glitt, die mit den unterschiedlichsten alten Grabsteinen und Kreuzen bestückt waren.
Weiter links befand sich der neue Teil des Friedhofs, der noch nicht von der Natur überwuchert worden war.
Rudy Farina wusste sehr genau, wohin er zu gehen hatte. Es wuchsen zahlreiche Bäume auf dem Gelände. Einer stach ihm besonders ins Auge, und ihn hatte er sich auch ausgesucht.
Es war die mächtige Eiche, die Jahrhunderte auf dem Buckel hatte.
Niemand wäre auf die Idee gekommen, sie fällen zu lassen. Sie war einfach zu prägnant, und diesen
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