Der letzte Werwolf
nehmen. Sein Blick schweifte grübelnd durch den Raum, dann sagte er ernst: „Mir scheint so manches entfallen zu sein. – Alles hier ist mir gänzlich unvertraut. Wie kam ich nur an diesen Ort?“
Phil wagte es nun auch, das Wort an ihn zu richten. „Wow, du hast uns einen irren Schreck eingejagt. Erst die Nummer mit dem weißen Hund und heute …“
Valentina warf ihm einen Blick zu, der ihn verstummen ließ.
„Das ist mein Bruder Phil“, wandte sie sich dann wieder an den Fremden. „Und ich heiße Valentina.“
Erneut verbeugte sich der Junge. „Mademoiselle, es ist mir eine Ehre, Sie und Ihren Herrn Bruder kennenzulernen. – Oh weh …“ Er hielt inne und rieb sich leise stöhnend die Stirn. „Ich befinde mich gar nicht wohl.“
„Kopfschmerzen? – Möchtest du ein Aspirin?“
Der Junge sah sie ratlos an.
„Warte!“ Kurz entschlossen ging Valentina in die Küche und kramte aus Isoldes Medikamentenschachtel eine Kopfschmerztablette.
Phil kam ihr nach, als sie eben Wasser in ein Glas laufen ließ. „Ich hab ihn grad nach seinem Namen gefragt. – Er wusste ihn nicht. Er sagt, er hat ihn vergessen, er weiß anscheinend überhaupt nichts, weder, wer er ist, noch, woher er kommt. Will der uns veräppeln?“
Valentina drehte bedächtig den Wasserhahn zu. „Das glaub ich nicht. Das hört sich eher an, als würde er unter Amnesie leiden.“
„Häh?“
„Gedächtnisverlust. Menschen, die etwas sehr Schlimmes erlebt haben, verdrängen manchmal, was sie durchmachen mussten. Sie erinnern sich einfach nicht mehr daran. Das hab ich mal gelesen.“
„Na super! Was machen wir jetzt mit ihm?“
„Normalerweise kommen die Erinnerungen irgendwann wieder. Man müsste ihn mit etwas Bekanntem auf die Sprünge helfen.“
Phil runzelte die Stirn. „Ich wüsste wirklich nicht womit.“
Der Klang von Phils Geige ließ die beiden in die Diele zurücklaufen. Der Junge stand am Flügel, auf dem Phil sein Instrument abgelegt hatte, und spielte. Ihm zu Füßen lag Herr Bozzi und lauschte verzückt. Die Geschwister blieben stumm in der Tür stehen. Mit geschlossenen Augen entlockte der fremde Junge der Geige Töne, die Valentina alles vergessen ließen.
„Wow! Du bist gut!“, brach es aus Phil heraus, als der letzte Ton verklungen war.
Der Junge sah hoch und legte die Geige behutsam auf den Flügel zurück.
Phil ging auf ihn zu. „Vivaldi.“
„Maestro Vivaldi, fürwahr. Indes mir sind die Finger etwas steif. Verzeihen Sie, ich konnte nicht widerstehen, verehrter Freund. Es ist wohl Ihre Violine?“
„Das ist schon okay!“, sagte Phil. „Seit wann spielst du? Wo hast du das gelernt?“
Der Junge zuckte bedauernd mit den Schultern.
Valentina kam näher. „Wir denken, dass du vorübergehend dein Gedächtnis verloren hast. Das gibt es manchmal. Bestimmt kommt es wieder zurück, wenn auch langsam und bruchstückhaft. – Du hast dich an das Musikstück erinnert, ein Anfang ist also gemacht.“ Damit reichte sie ihm das Aspirin und das Wasserglas.
Zweifelnd steckte der Junge die Tablette in den Mund, dann schüttelte er sich.
„Trink!“ Valentina lächelte. „Es schmeckt nicht, hilft aber.“
Heftig würgend gab er ihr das Glas zurück. „Ich … ich weiß Ihre Fürsorge zu schätzen, verehrte Mademoiselle.“
„Du musst dich entspannen, das wird schon wieder“, sagte Valentina. „Schau dich mal um! Kommt dir hier noch etwas bekannt vor, so wie die Geige?“
Verloren wanderten seine hellblauen Augen durch den Raum. „Ich wähne mich träumend. Einzig die Violine und dies …“ Behutsam strich er über den schwarz glänzenden Schellack des Flügels, während er das Instrument in bedächtigen Schritten umrundete. Schließlich setzte er sich auf den Klavierhocker. Seine schlanken, weißen Finger schlugen die Tasten an. Nach den ersten Tönen hielt er inne. „Mir scheint dies Cembalo überaus groß, doch ist sein Ton ganz exzellent.“ Zur Überraschung seiner Gastgeber stimmte er sodann ein Menuett an, das Valentina auch schon gespielt hatte.
„Bach.“ Sie lehnte sich überrascht an den Flügel. „Allerdings ist das kein Cembalo, sondern ein Flügel – ein großes Klavier“, fügte sie hinzu, als sie seinen verständnislosen Blick auffing.
„Mademoiselle …?“ Er hob die Augenbrauen und fuhr versunken in seinem Spiel fort.
„Er hat noch nie vorher einen Flügel gesehen“, raunte Phil, der nun neben seiner Schwester stand. „Er denkt, das ist ein großes Cembalo.
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